: Vom Vorkäsen
■ Heidelberger Gesprächskreis zur optimalen Verwertung einer Wortschöpfung
Am letzten Dienstag trafen sich M., E., W. und L. zu ihrem literarischen Mittagessen, das alle zwei Wochen stattfindet. In einem italienischen Restaurant. E. und L. hatten gerade ihren Salat verzehrt, als L. auf dem Tisch die Streukäseschale mit Deckel erblickte. Der Klappmechanismus war etwas verbogen, so daß sich die Schale nicht mehr vollständig schließen ließ. L. wollte M. darauf hinweisen, daß der Inhalt der Schale dazu geeignet sei, nachträglich auf das Nudelgericht gestreut zu werden.
Um Zeit zu sparen oder vielleicht auch, um originell zu sein, gebrauchte L. dafür das Wort „Nachkäsen“. Sofort wollte jemand – wahrscheinlich E. – wissen, ob es dann auch ein Vorkäsen geben könne, und W. fragte sich, wann dieses Wort (Vor- beziehungsweise Nachkäsen) wohl im Duden zu finden sei. Alle waren sich darin einig, daß dies noch eine Weile dauern könne, weil die Duden-Redaktion dem aktuellen Sprachgebrauch immer mehrere Jahre hinterherhinke. So brachte E. den Vorschlag ein, daß nun einfach möglichst viele Leute bei der Duden-Redaktion anfragen sollten, wie denn beispielsweise „Vorkäsen“ zu schreiben sei. So ließe sich vielleicht ein Trend simulieren, den die Duden-Redaktion dann aufgreifen müsse. Die Rechtschreibreform wurde an dieser Stelle und auch später jedoch in keiner Weise angesprochen, wahrscheinlich, weil sie in den Medien zur Zeit keine Rolle spielt.
M. meinte, es sei auf jeden Fall eleganter, einen Bestseller zu schreiben, etwa mit dem Titel „Der Vorkäser“, oder auch „Die Vorkäserin“, als bei der Duden-Redaktion Telefonterror zu veranstalten. Jedenfalls könnte durch solch einen Bestseller das Vorkäsen ein integraler Bestandteil des deutschen Wortschatzes werden.
M. machte nun den Vorschlag, im nächsten Schritt sei eine Schule zu gründen mit dem Abschluß Diplom-Vorkäser, woraufhin E. meinte, dazu gehörten dann auch Studienaufenthalte in den Niederlanden und in der Schweiz. L. erinnerte sich daran, vor kurzem in den Niederlanden mehrere Jahre alten Käse gegessen zu haben, der zwar etwas ungewöhnlich aussah, aber vorzüglich mundete. Außerdem fiel ihm ein, daß die Niederlande und die Schweiz in den fünfziger Jahren einen gemeinsamen TEE-Zug entwickelt hatten, der offenbar bereits in dieser frühen Phase der Käseverständigung gedient haben müsse und wahrscheinlich im Speisewagen zumindest den Vorläufer eines Vorkäsers an Bord gehabt haben dürfte.
Weitere Vorschläge aus der angeregten Diskussionsrunde liefen darauf hinaus, daß im Zuge der allgemeinen Akzeptanz des Vor- und Nachkäsens möglicherweise auch ungewaschene Füße wieder gesellschaftsfähig werden könnten. W. fiel dazu ein, die österlichen Fußwaschungen des Papstes sollten dann diesem Trend angepaßt und zu Fußkäsungen werden, beispielsweise durch Einreiben der Füße mit stark gereiftem Limburger. Beim Stichwort Ostern erinnerte sich E. an ihre derzeitige Tätigkeit als Fremdenführerin, bei der sie den Touristen unter anderem die Kasematten oben auf dem Heidelberger Schloßberg zeigt.
L. entwickelte die historische Hypothese, daß in früheren Jahrhunderten die Verteidiger der Stadt dort bei einer Belagerung wohl ihre Käsematten ausbreiteten und darauf herumstampften, um so die Angreifer durch den infernalischen Gestank in die Flucht zu schlagen. Daß diese Taktik nicht aufgegangen war, sei am Schloß heute noch zu sehen, da es nun einmal größtenteils eine Ruine sei.
Zum Schluß gab es noch einen kurzen Ausblick auf künftige Trends bei der Namensgebung, Kasimir und Kassandra seien dann laut W. bestimmt einmal sehr beliebt, und L. streute sich mehrere Löffel aus dem Inhalt der Käseschale auf die Pizza. Lothar Seidler
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