Regierungschef auf Abruf

Rußlands Premier Sergej Stepaschin hat sich noch nicht richtig in seinem Büro eingerichtet, da steht sein Posten bereits wieder zur Disposition  ■   Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Die Organisatoren der parlamentarischen Versammlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) wollen ganz auf Nummer Sicher gehen: Am 8. Juli tritt das Gremium in St. Petersburg turnusgemäß zusammen. Und wie üblich ist der Ministerpräsident des gastgebenden Landes als Eröffnungsredner vorgesehen. Doch wer weiß, wer das dann sein wird ? Während die Tagesordnung alle sonstigen russischen Teilnehmer namentlich aufführt, bleibt der Premier namenlos.

Das Mißtrauen der Veranstalter stützt sich auf Erfahrungen. Sergej Stepaschin ist Moskaus vierter Premier in anderthalb Jahren. Seit knapp einem Monat im Amt, machen schon wieder Gerüchte die Runde, auch sein Schicksal hänge am seidenen Faden, den Herbst werde die unter größten Mühen Anfang Juni zusammengeflickte Regierung nicht erleben.

Zurück vom G-8-Gipfel in Köln verlieh Kremlchef Boris Jelzin den Gerüchten ein solides Fundament: „Halbwegs“ sei er mit der Arbeit des Premiers zufrieden, brüskierte er den loyalen Gefolgsmann öffentlich. Sobald sich Untergebene in Sicherheit wiegen, beschleicht den Kremlzaren Unwohlsein. Dem häuslichen Politbüro war schon der Einstieg Stepaschins sauer aufgestoßen. Die oppositionelle Duma bestätigte mit satter Zweidrittelmehrheit den Premier im Amt, dem sie damit fast soviel Vertrauen entgegenbrachte wie Vorgänger und Kompromißpremier Jewgenij Primakow. Den hatte Boris Jelzin entlassen. Unabhängigkeit und Popularität des Premiers beunruhigten den Familienrat, dem Jelzins Tochter Tatjana Djatschenko vorsitzt. Zum intimen Kreis gehören nach wie vor der ehemalige Kanzleichef und Jelzinbiograph Walentin Jumaschew und Nachfolger Alexander Woloschin. Auch Magnat Boris Beresowskij genießt weiterhin freien Zugang zum Präsidenten. Inzwischen stieß noch ein jüngerer Rasputin hinzu: Der Unternehmer Roman Abramowitsch erfüllt die Aufgaben eines Kassenwartes der Töchter des Präsidenten. Dieser „kollektive Jelzin“ duldet einen Premier nur, wenn er vom Wohlwollen des Kreml abhängig ist.

Dagegen hat Stepaschin mehrfach aufgemuckt. Zunächst legte er Wert darauf, sein eigenes Kabinett zusammenzustellen und ausgewiesene Wirtschaftsexperten anzuheuern. Der Versuch schlug fehl. Statt dessen setzte der Kreml Stepaschin mit Nikolai Aksjonenko einen stellvertretenden Ministerpräsidenten zur Seite, der für den realen Sektor und die natürlichen Monopole zuständig ist, ohne entsprechende Erfahrungen vorweisen zu können. Die Weihen Beresowkijs reichten aus, um den ehemaligen Eisenbahnminister mit der Wirtschaft zu betrauen. Er tritt als der wahre Vertreter des Kreml auf, der die Autorität des Regierungschefs anzuerkennen nicht bereit ist. Jahrelang an der Spitze des lukrativen Transportwesens soll er einiges neben dem bescheidenen Salär eines Ministers hinzuverdient haben. Einige Konkurrenten müssen bei dem Versuch mitzuverdienen, unter die Räder gekommen sein.

Warum fiel die Wahl des Kreml ausgerechnet auf eine so dubiose Figur wie Aksjonenko? Beobachter mutmaßen die Familie will sich für die bevorstehenden Wahlkämpfe die Fleischtöpfe der betuchtesten Financiers sichern. So wurden auch die Chefsessel beim russischen Zoll und in der Steuerbehörde mit loyalen Gefolgsleuten besetzt. Indes scheint sich der Kreml bisher nicht auf einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten geeinigt zu haben. Nur eins gilt als sicher: Die Wahl des aussichtsreichen Moskauer Bürgermeisters Jurij Luschkow soll verhindert werden. Fürchtet die Familie, der neue Präsident könnte Korrekturen an ihrem Privatvermögen vornehmen? Mit Politikgestaltung und Reformen lassen sich diese Machenschaften nicht mehr in Einklang bringen. Der Kreml erwartet daher von Premier Stepaschin keine wegweisenden Maßnahmen. Seine Aufgabe beschränkt sich darauf, den Internationalen Währungsfonds zu bewegen, Moskau einen weiteren Kredit zu gewähren, um wenigstens die Schulden zu bedienen. Die Zeitung Kommersant wollte erfahren haben: Jelzins Kanzleichef Woloschin habe die Familie überzeugen können, Stepaschin erst zu entlassen, wenn das Abkommen mit dem Währungsfonds unter Dach und Fach sei ...