: Der Drang nach Osten existiert immer noch
■ betr.: „Kalte Herzen, kalte Heimat“, taz.mag vom 19./20. 6. 99
[...] Christian Semler vergleicht die Vertreibung in Bosnien und besonders im Kosovo mit der Vertreibung der Deutschen aus ehemaligen deutschen, widerrechtlich und völkerrechtlich eroberten, besetzten Ostgebieten.
Der Vertreibung der Deutschen ging, wenn hier überhaupt verglichen werden darf, keine jahrelange, ethnische Säuberung, keine menschenverachtende Verfolgung und Diskriminierung voraus. Im Gegenteil, die in östlichen Ländern lebenden Deutschen haben doch Hitler und seiner (Welt-)Eroberungspolitik zugejubelt und ließen sich willig ins „Deutsche Reich heimholen!“. Diese Vertriebenen und deren Funktionäre haben sich bis heute nicht öffentlich gegrämt, geschämt, ernsthaft mitdiskutiert, vergangenheitsbewältigt und auch nicht öffentlich entschuldigt für das, was an sechs Millionen europäischen Juden systematisch, fabrikmäßig, verabscheuungswürdig praktiziert, geübt und schließlich „geendlöst“ wurde. Ich kann mich nicht erinnern, jemals Scham und Entschuldigungen von sogenannten Sudetendeutschen, Ostpreußen, Schlesiern etc. gehört zu haben.
Die Konstruktionen vom immerwährenden Drang der Deutschen nach Osten waren und sind gar nicht so hirnlos, wie Christian Semler schreibt. Dieser Drang der Deutschen existiert immer noch, wird manchmal offen, meistens klammheimlich (wegen der doch belastenden Vergangenheit) weiter gedacht und gepflegt. Denn Deutsche, insbesondere Bayern, aus dem die braune Soße hoch in den Norden schwappte, sind die fleißigsten, die tüchtigsten, die saubersten und erfolgreichsten Geschäftsleute, Gutsbesitzer, Landwirte etc. im Vergleich mit den Menschen im zurückgebliebenen Osten, die „das ganze schöne Land heruntergewirtschaftet, verwüstet und total vernachlässigt haben“ (so oftmals die Worte beim unverhofften Gespräch mit Vertriebenen). Und der Drang der Hitler-Deutschen über die ganze Welt existiert ebenfalls noch in den Köpfen von ewiggestrigen und heutigen Deutschen. Die verräterischen, revanchistischen Begriffe wurden mit der Zeit sorgsam geändert und dem modernen Sprachgebrauch angepaßt.
Ich erinnere nur daran, wie erst vor zwei Jahren die Vertriebenenverbände mit Hilfe des seinerzeitigen Bundesfinanzministers Theo Waigel ihre Satzungen mit kostenloser juristischer Unterstützung direkt im Bundesfinanzministerium korrigieren lassen konnten und mußten, damit sie nicht den Anspruch auf die Subventionen wegen revanchistischer, der Verfassung widersprechender Formulierungen verlieren.
Welcher Verband hat das Privileg, vom Bundesfinanzminister persönlich juristisch beraten zu werden, damit diese Subventinen gerettet und erhalten bleiben und nicht im Zuge des Sparhaushalts gestrichen werden? Welcher Verband hat das Privileg, von einem Bundesaußenminister (Kinkel) in höchst persönlich und in höchst eigennützigen Verhandlungen mit der tschechischen Regierung vertreten zu werden? Ganz eindeutig ging es dabei nicht um „Heimatrechte“, sondern um Grundbesitzrechte, um abgesprochene Vermögenswerte seitens der sogenannten Sudetendeutschen und deren Forderungen nach nochmaligen Entschädigungszahlungen, diesmal aus dem Steuertopf der tschechischen Regierung. Durch diese eigennützigen, zänkischen Verhandlungen im Namen einer „sudetendeutschen“ Interessengruppe wurde doch das gesamte deutsch-tschechische Verhältnis viele Jahre lang nach dem Mauerfall belastet – bis heute.
Es ging hierbei doch gar nicht um deutsche Interessen, wie gerne öffentlich seitens des ehemaligen Außenministers Kinkel und der bayerischen CSU-PolitikerInnen hervorgehoben wurde, sondern lediglich um nach Grundbesitz gierende Menschen, die seit langem im schönen Bayern wohlgefällig leben. Und scheinbar auch nach 50 Jahren Leben in der Bundesrepublik Deutschland nicht heimisch geworden sind? [...]
Die Vertriebenen machen sich nicht bewußt, daß es inzwischen durch die 16 Jahre Kohl-Ära neue innerdeutsche Vertriebene gibt: die Vertriebenen von Arbeitsplätzen! Und diese müssen bisher ohne jegliche Entschädigungszahlungen ihre Vertreibung, Abwertung, ihre Diskriminierung ertragen. [...] Gerda Fürch, Berlin
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