: Kein schöner Land in dieser Zeit
■ Krieg spielen, um „geile Kriege, die geil machen“ besser verarbeiten zu können? Christoph Schlingensief lud zu einer „Erlebnisreise“ ins brandenburgische Massow
Der „Berlinienbus“ steht abfahrbereit vorm Eingang der Volksbühne, als Schlingensief und seine Kerngruppe kurz nach 21 Uhr in NVA-Tarnanzügen aus dem Theater kommen. Fröhlich werden die wenigen Fahrgäste begrüßt. „Eigentlich ist das der falsche Bus“, sagt Christoph, „wir wollten keinen Doppeldecker, damit jeder was sehen kann.“ Also sollen sich die von oben doch nach unten setzen, dazu ist es aber doch zu voll. Margit Carstensen läßt Textblätter mit Wanderliedern verteilen. „Hoch auf dem gelben Wagen“ singen wir lautstark, als wir an der Ruine des Ostbahnhofs vorbeifahren. Dann „Kein schöner Land in dieser Zeit“.
Ziel dieser „Erlebnisreise nach Massow, ohne Heizdeckenverkauf“ ist ein ehemaliges NVA-Ausbildungslager, wo es eine Nachtwanderung geben soll. Schlingensief will seine Horrorerlebnisse aus den Flüchtlingslagern in Albanien heute abend offenbar an uns abreagieren. Er dichtet den recht komfortablen Bus mit Klimaanlage zum kosovarischen Trecker um. „Vielleicht ist das der letzte Sonneuntergang, den wir auf dieser Autobahn erleben“, sagt er kurz hinter Waltersdorf. Die ärgsten Schäden draußen sind eine Baustelle und das I von Ikea, das nicht leuchtet. Um die Situation zu verschärfen, hat jemand das Busklo zugesperrt. Susanne Bredehöft muß aber mal! Herr Spielberg – so heißt der Fahrer tatsächlich – kann aber nicht halten, keine Standspur!
„Da sieht man, wie hier unser Geld verschleudert wird!“ ruft Schlingensief ins Busmikro. Der kleine Axel öffnet die Klotür mit einem Vierkant. Dann streitet sich Axel mit jemand um ein Stück Schokolade: S. vergleicht die Lage mit der schlechten Behandlung der Kosovaren in den Lagern, wo jede Hilfe für einzelne vermieden würde, um keinen Neid aufkommen zu lassen. „Nicht mal faxen dürfen die!“ Fischer sei ein Verbrecher und Scharping sowieso. Der habe „die Bilder“. Wir singen „Im Frühtau zu Berge ..., werft ab alle Sorgen und Qual, fallera“.
Herr Spielberg wird gefragt, ob er immer so fröhliche Reisende habe, aber der ist viel Schlimmeres gewohnt. Die Autoinsassen auf der Spur neben uns wundern sich über die Leute in den Kampfanzügen, die durch unseren Bus hechten. Inzwischen, es ist bald 23 Uhr, stehen wir im Stau. „Die haben die Ausfahrt umbenannt, wir sind zu weit gefahren!“ Obwohl S. schon seinen Film „Terror 2000“ in Massow gedreht hat, scheint er nun den Weg nicht mehr zu finden. Hat er den Stau vielleicht mit Komparsen organisiert? Der Bus wendet, die Ausfahrt heißt neuerdings Baruth. S. erkennt das Schild der Reha-Klinik wieder und, da links!, der Betonbau, das sei die Raststätte. Dort treffen wir uns nachher wieder, falls wir uns verlieren!
Hübsch leuchtet die Elf-Minol- Tankstelle in der Nacht. Dort erwartet man uns. Ein Tisch mit dem typisch brandenburgischen Sundowner Klaren steht bereit, dahinter eine Blutspendeplakat. Wir stoßen an mit dem Chef der Anlage, der kurz über die Millioneninvestitionen berichtet, von denen man noch nichts sieht. Taschenlampen werden verteilt. Hinter der Tankstelle die Wildnis. Die DDR-Taschenlampen leuchten nur, wenn man ihren Dynamo geräuschvoll in Gang hält. Habt ihr die Leiter bereitgestellt? fragt S. Dann verschwindet der Rest seiner Truppe. S. rennt mit Megaphon vor uns her über einen Betonplatz mit Lagerhallen, dann in den Wald, dann verlassen wir den Sandweg, schlagen uns durchs Unterholz. S redet ununterbrochen wirres Zeug. „Geile Kriege, die geil machen.“
Paßt auf die Minen auf! sagt S. und verschwindet in einem alten Bombenkrater, findet einen toten Hasen, leuchtet sich und dem Hasen ins Gesicht, schneidet dem Häschen in der Grube eine Pfote ab. „Krieg als Dauerzustand“ hatte er versprochen.
Dann sollen wir uns bewaffnen. Jeder nimmt sich ein Plastikrohr, läuft damit hinter S. her auf eine hohe Betonmauer zu. Die Videoleute und Fotografen erklimmen als erste mit S. die Küchenleiter. Wir sollen ruhig sein. Auf dem Gelände beginnt das eigentliche Kriegsspiel. S. schreit irgendwas, jemand schießt auf ihn, er ballert mit Schreckschüssen durch die Nacht, treibt uns zurück zur Mauer. Eine Frau mit Kopftuch beschimpft S.
Und dann entdecken wir die fremden Personen an dem Lagerfeuer. „Wir zelten hier“, sagen sie nur. S. ist inzwischen verschwunden. Er hat uns allein gelassen.
Jetzt beginnt wahrscheinlich sein eigentliches Experiment – er will unsere Gruppendynamik testen. Nur wissen wir tatsächlich nicht genau, wo unser Bus sein könnte. S. bleibt verschwunden. Ohne große Diskussion laufen wir zur Raststätte zurück. S. sitzt mit seinen Kumpels schon beim Bier. Es gibt leckeres Radeberger und Bockwurst mit Kartoffelsalat. Auf der Rückfahrt sehen wir das Video unsrer Nachtwanderung. Das I von Ikea leuchtet immer noch nicht. Es ist 2.41 Uhr, als wir vor der Volksbühne ankommen. Schöner Ausflug. Andreas Becker
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