: Der Mond über Michael
„Das also ist Rock“: Rituell trifft sich im dänischen Roskilde vor allem ein wetterfestes Alternative-Rock-Publikum – trotz „neuer Identitätsbereiche“ und fehlender Legenden. Eine Jahrgangsauslese ■ Von Gerrit Bartels
Seid ihr alle betrunken? Seid ihr auf guten Drogen? Habt ihr alle guten Sex? Es ist Robbie Williams, der am Freitag abend auf der sogenannten grünen Bühne in Roskilde diese drei Fragen stellt, die er natürlich alle mit einem vielstimmigen „Ja!“ aus dem Publikum beantwortet bekommt. Williams ist stimmungsmäßig gut überm Strich, er sampelt das Star-Wars-Thema („May the force be with you, motherfuckers!“), wedelt mit seinem Penis, covert die Beatles, macht sich über die Blur-Kollegen lustig und erzählt Geschichten von seinem kleinen Bruder Robbie, der einst bei Take That immer „Back For Good“ singen mußte.
Dieser lustige und einigermaßen ausschweifende Auftritt des Ex-Take-Thatlers wird zwar tags drauf in den dänischen Zeitungen groß abgefeiert („Robbie Mania“ „The God of Party“), dürfte aber bei den notorisch um die Welt besorgten Organisatoren des Festivals ein paar Falten mehr auf den sozialdemokratischen Stirnen hinterlassen haben.
Denn einfach nur um Sex, Drugs und Rock 'n' Roll soll es nicht gehen, wenn in das kleine dänische Städtchen Roskilde jedes Jahr für rund fünf Tage 65.000 Leute einfallen. Da sind schließlich fast alle Bürger rund um die Uhr auf den Beinen, kontrollieren die Eintrittsbänder, verkaufen Essen und Bier, regeln den Verkehr, machen sauber und gewährleisten in Form dieser freiwilligen und überaus charmanten Hilfe einen reibungslosen Ablauf. Und dafür muß es als Gegenleistung schon ein bißchen mehr geben als die von Williams exzessiv beschworene Rock 'n' Roll-Formel: das fast schon obligate Pfand- und Mülltrennungssystem, das Pochen auf den trotz Carlsberg, Coca-Cola, Sol, Frisko oder Good Year antikommerziellen Charakter des Festivals, die vielen Spenden für karitative Einrichtungen (u. a. ging dieses Jahr ein Scheck über eine Million Kronen an die Flüchtlingshilfsorganisation „Helft dem Balkan“, „mit solidarischem und humanitärem Gruß des Publikums und der Mitarbeiter an das Volk im Kosovo“!), der Support für die dänische Aids-Hilfe mittels Verkaufs roter Schleifen mitsamt Verlosung einer Reise zu zweit nach Australien am letzten Abend.
Mit Marilyn Manson und Mülltrennung
So viel politische Korrektheit läßt das eine oder andere der skandinavischen und sicher auch deutschen Kids schon mal einen Becher Carlsberg mehr trinken, einen Joint mehr rauchen oder Bands wie Marilyn Manson oder eben Robbie Williams noch ein bißchen mehr ins Herz schließen – sind sie diese Korrektheit in vielen Fällen doch gerade von zu Hause geflohen: Overprotection is in the house und überall. Im Gegensatz dazu wirkt es geradezu rührend hilflos, wie sehr sich die Veranstalter in diesem Jahr bemüht haben, „neue Identitätsbereiche“ auf dem Festivalgelände zu schaffen: Zum einen die „ethnic area“ mit Weltmusik und mexikanischem, russischem und afrikanischem Fast food, zum andern die „technological area“, eine größere Fläche, auf der man gleich zwei Bühnen für DJs und elektronische Musik mitsamt Chillout-Zonen eingerichtet hat.
Hier darf sich das Publikum mit der schönen neuen elektronischen Welt auseinandersetzen, mit den Sounds genauso wie mit Internetkunst, Playstations, Clubästhetik, Coke-Werbefilmen (!) und anderem Schnickschnack. Das ist gut gemeint, macht auch Sinn, wenn man den veränderten Lebensbedingungen und Hörgewohnheiten jetzt und im nächsten Jahrtausend Rechnung tragen will. Doch hinhauen tut das nicht.
Denn wie überall auf dem Gelände wird auch hier nichts anderes gemacht als gegessen, getrunken, gestanden, gesessen, getanzt, im Programm geblättert – die vielbeschworenen Identitätsbereiche sind auf dem 145 Hektar großen Pferdeacker jedes Jahr dieselben. Zumal das Programm, im Gegensatz zu den vergangenen Jahren, merkwürdig schwach ist: Cassius, Fabio und Grooverider, I: Cube oder Orbital reißen es nicht, zu viele Subszenen hat das Genre elektronische Musik in den letzten Jahren entwickelt, zu schnell wechseln die Styles und Hypes.
Zum anderen aber ist das mit der Identität des Roskilde-Publikums sowieso so eine Sache. Es ist vor allem ein Rockpublikum, das sich hier alljährlich versammelt, der große Teil ist mit Alternative und Indie-Rock, mit Grunge und Punkrock sozialisiert worden, zumindest läßt sich das der Kleidung entnehmen (die mitunter natürlich auch den oft widrigen Wetterbedingungen, unter denen das Festival stattfindet, geschuldet sein kann). Die meisten fahren nach Roskilde, weil sie immer hierher fahren, weil vieles von dem hier rituellen Charakter hat, weil selbst die alles andere als schönen Campingplätze mitsamt sanitären Anlagen einfach mit dazugehören.
„Wenn da morgens um fünf irgendwelche Idioten in ihre Zelte zurückkehren und dann ganz laut Rage Against The Machine hören, frage ich mich schon, warum ich mir das seit sieben Jahren antue“, gesteht ein Berliner Bekannter in einer schwachen Minute, geht dann aber kurz darauf mit mir freudig und gespannt das Programm durch, um ja den nächsten guten Auftritt nicht zu verpassen: Die norwegische Band Motorpsycho steht auf dem Plan einer kleineren Bühne. Hier füllt sich das Zelt erstaunlicherweise nur langsam, trotz einsetzenden Regens, einige Stunden später passiert dasselbe bei der finnischen Band 22 Pistepirko: Das zur Hälfte aus Dänemark stammende Publikum scheint für andere skandinavische Bands nicht allzuviel übrig zu haben: Globalisierung mitsamt den brasilianischen und südafrikanischen Themenabenden schön und gut, doch neben den vermeintlichen Top-Acts auf der großen orangenen Bühne scheinen die großen Renner vor allem die eigenen Landsleute zu sein: der öde R & B-Star Thomas Helmig oder die wenig aufregenden Rockbands Kashmir und Psyched Up Janis.
Mainstream-Metaller als kleiner Konsens
So richtig einigen können sich dann alle miteinander vor allem auf die Mainstream-Metaller von Metallica. Bei denen wird schön geschunkelt und geschluchzt, und als die erste Ballade erklingt, versinkt das ganze Gelände in einem großen Feuerzeuglichtermeer. Auch Suede bemühen sich redlich, große verbindende Rockstars zu sein, treten sie doch gleich an drei Tagen auf verschiedenen Bühnen auf. Doch selbst wenn das Teeniepublikum Zeile für Zeile der Suede-Songs mitsingen kann – die Person von Brett Anderson will mit Stadionrock, Mikro-schwingen-lassen-wie-ein-Lasso und Sex-Pistols-Coverversionen nicht so recht zusammengehen. Auch R.E.M. hinterlassen auf der großen Bühne eher zwiespältige Gefühle: Michael Stipe sieht den Mond hinter den Bäumen aufgehen, findet das alles andere als simpel, wie er dem Publikum erklärt, sondern spektakulär und ist auch sonst ziemlich ruppig. Daß es bei „Losing My Religion“ dann am heftigsten abgeht, bestätigt nur den (positiven) Eindruck, daß R.E.M. mit ihren folgenden Alben und Songs nie die Monsterrocker geworden sind, als die sie hin und wieder beschrieben werden.
Irgendwie aber fehlen sie in diesem Jahr, die Stars und großen Legenden, die Bands und Musiker, die man einmal in seinem Leben gesehen haben muß, sagen wir Neil Young oder Velvet Underground. Oder Bands, die man sich zu Hause auch nicht für eine Mark angucken würde, wie Rammstein oder Black Sabbath. Was neben dem wie immer angenehm peacefullen atmosphärischen Eindruck bleibt (und dem Eintrittsband mehr um das Handgelenk!), das sind in diesem Jahr eher die Auftritte auf kleinen Bühnen von Bands wie Mercury Rev, 22 Pistepirko oder Built To Spill (für manche der beste des gesamten Festivals). Vielleicht aber auch der Auftritt der Hamburger Band Die Sterne, deren Sänger Frank Spilker immer „Merci Beaucoup“ sagt und einer Frau die Verbindung einer MFG nach Münster herstellt, um ihr dann zu sagen: „Jetzt will ich dein verdammtes Schild aber nicht mehr sehen.“ Als sie dann ihre zweite Zugabe geben, glauben die Sterne verstanden zu haben, um was es in Roskilde trotz aller vermeintlichen Neuerungen geht – und wahrscheinlich auch in den nächsten Jahren weiter gehen wird: „Das also ist Rock.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen