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Interdisziplinäres Sightseeing

Während das kulturelle Erbe weltweit zur touristischen Attraktion degradiert wird, versucht die Theaterakademie Ruhr Philosophie und Feldforschung auf postindustriellem Gelände. Das Theater der Zukunft soll ortsbezogen Globalisierung übersetzen  ■   Von Elke Buhr

Szene 1: 35 junge Schauspieler und Regisseure stehen auf einem Hochofen

Der Landschaftspark Duisburg-Meiderich ist ein Themenpark in Sachen Schwerindustrie. Der riesige Hochofen mit seinem verschlungenen Röhrensystem. die Produktions- und Lagerhallen: Alles ist noch so, wie die Arbeiter des Stahlwerkes es Mitte der 80er Jahre verlassen haben, nachdem die Manager dem Standort Duisburg das Licht ausgepustet haben. Nur, daß man heute dort Eis kaufen, Infotafeln lesen und über befestigte Stahltreppen in die rußigen Eingeweide kriechen kann. Immer höher geht es, und die Teilnehmer des Regie- und des Schauspielkurses der Theaterakademie Ruhr arbeiten sich von Etage zu Etage vor, wie die anderen Sonntagsausflügler auch. Als sinnproduzierende Vorhut vorneweg klettert Barbara Kirshenblatt-Gimblett, Kulturwissenschaftlerin aus New York. Sie beschäftigt sich mit dem weltweit zu beobachtenden Phänomen der Vermarktung des kulturellen Erbes als touristische Attraktion. Letztlich, so meint sie, haben die Industriedenkmäler im Ruhrgebiet die gleiche Funktion wie die restaurierten Kriegerdörfer der Massai in Kenia: Sie inszenieren eine verschwundene Lebenswelt als Spektakel. In diesem Sinne ist der dekorativ vor sich hin rostende Hochofen ein – sehr langsames – Event. Und die 35 jungen Schauspieler und Regisseure haben was zu denken.

Und genau deshalb hat Hannah Hurtzig die Frau Professor aus New York zu ihrer Theaterakademie Ruhr eingeflogen. Hannah Hurtzig hat als freie Produzentin Festivals wie „Theater der Welt“ in Dresden oder die letzte Bonner Biennale betreut, und eigentlich hatte die neugegründete Kultur-Ruhr-GmbH, die die verstreuten Theaterfestivals und Kulturaktivitäten des Ruhrgebiets bündelt und gemeinsam vermarktet, ein weiteres Festival bei ihr bestellt. „Aber das“, so erklärt sie. „war mir einfach zu langweilig.“ Statt dessen hat sie eben jene Theaterakademie Ruhr gegründet, die in diesem Juli erstmals in Bochum stattfindet. Und wer gedacht hat, er könnte in den vier Wochen nett ein bißchen Schauspielern, Workshoppen und Stücke schreiben, der hat sich geschnitten: „Ein Treffpunkt von Theater, Feldforschung und Philosophie auf postindustriellem Gelände“ soll diese Akademie sein.

Dazu hat Hurtzig eine beeindruckende Riege von internationalen Dozenten zusammengerufen: von Johan Simons, Gründer der niederländischen Theatergruppe Hollandia, oder Christoph Marthaler (Regie) über David Harrower („Messer in Hennen“) als Autor bis zu Castorfs Chef-Bühnenbildner Bert Neumann und den Pariser Lichtdesigner Jean Kalman. Abends vernetzt man sich mit Hilfe von angewandter DJ-Culture, und an den Wochenenden werden die Teilnehmer auf weiteren interdisziplinären Sightseeing-Touren das Ruhrgebiet und seine Bewohner als „begehbare Metapher für den Strukturwandel“ gemeinsam mit Experten wie Mrs. Kirshenblatt-Gimblett erforschen.

Diesen Input an Theorie vervollständigt eine Vortragsreihe zur „Zukunft der Arbeit“, die der Wirtschaftswissenschaftler Dirk Baecker von der Universität Witten-Herdecke zusammengestellt hat: Dort wird sich u. a. die internationale Gruppe der „glücklichen Arbeitslosen“ vorstellen, die versucht, die Arbeitslosigkeit vom Stigma des Asozialen zu befreien und statt dessen als Freizeit und somit Zeit für gesellschaftliche Erneuerung zu preisen. taz-Autor Helmut Höge wird Beispiele von kreativem Umgang mit der Strukturwandelei vorstellen, die für den einzelnen zunächst einmal bedeutet, sich immer wieder irgendwo Job und Geldquelle zu verschaffen. Eine Situation, die gerade Theatermachern bekannt vorkommen dürfte, die sich längst nur noch als nomadisierende Projektarbeiter von Marktlücke zu Marktlücke hangeln.

In einer Zeit, in der Politik nur mehr als Inszenierung wahrgenommen wird und Kanzler der wird, der am besten sein eigenes Grinsen simulieren kann, entdeckt das Theater also die Politik wieder, und man braucht, so Hannah Hurtzig, Theorie. Wobei Theorie hier so etwas wie interdisziplinäre Kapitalismusforschung zu meinen scheint. George Soros lesen, die Asienkrise verstehen und das Wort Globalisierung in mehreren Sprachen deklinieren: in diesen Disziplinen sollen die Theatermacher der Zukunft sich üben, anstatt noch mal und noch mal über eine Aktualisierung von Shakespeare nachzudenken. Es geht um ein Theater, das sich wieder neu als Reflexionsort einer Gesellschaft versteht. Theater, das der Gesellschaft nützt: Die Wahrheitskommission in Südafrika, durch die eine ganze Gesellschaft versucht hat, sich öffentlich mit theatralischen Mitteln im Sinne einer Katharsis zu reinigen, taucht immer wieder als Referenzpunkt auf. Man ist postmodern, postindustriell, post-alles, taucht unversehens mitten in der Moderne wieder auf und hört Hannah Hurtzig das Wort „Aufklärung“ sagen.

Es ist sicher kein Zufall, daß das Stück des Eröffnungsabends der Theaterakademie Ruhr auf Texten eines klassisch linken Autors der Siebziger beruhte: Pier Paolo Pasolini. Zu sehen war „Zwei Stimmen“, eine Inszenierung des Hollandia-Chefs Johan Simons, in dem ein großartiger Jeroen Willems in verschiedenen Monologen emblematische Porträts von Machthabern der Gesellschaft zeichnet: der zögernde Intellektuelle, der skrupellose Unternehmer, der korrupte Geistliche. Der letzte Monolog aber basierte auf authentischen Reden des Vorstandsvorsitzenden von Shell International und machte dessen Ergüsse über moralische Probleme und gesellschaftliche Verantwortung des Unternehmers als Global player zur Farce.

Szene 2: 35 junge Schauspieler und Regisseure essen in einem riesigen Einkaufszentrum Pizza

Städte im Ruhrgebiet sind wie Rom: Im Zentrum befinden sich tote Flächen. Was den Römern die antiken Ruinen sind, sind dem Ruhrgebietler die Reste der Industrie, an der die Bebauungsstruktur ausgerichtet war. Die Stadt Oberhausen hat ihre postindustriell leere Mitte mit einem riesigen Einkaufzentrum zugedeckelt, dem Centro. Hier hält der Schulausflugsbus zum Aussteigen, Essenholen und Schnell-Zurückkommen. Doch beim Betreten der Coca-Cola-Oase bleibt den theatralischen Feldforschern aus Rußland, Bulgarien, Italien und Argentinien vor Entsetzen der Mund offenstehen: Eine riesige pseudoantike Kuppel voller Leinwände und Leuchtreklamen spannt sich über einer Rotunde mit bunten Freßbuden verschiedenster Provenienz. Welch eine Kulisse! Wenn der Hochofen von Meiderich Erinnerung ist, wird Frau Professor Kirshenblatt-Gimblett später murmeln, dann ist diese virtuelle Welt sein Gegenstück: eine Inszenierung absoluter Ort- und Geschichtslosigkeit. Hier erholen sich die Kinder der strukturgewandelten Hochofenarbeiter von ihrem unbeständigen Berufsleben, hier kellnert der zukunftsträchtige Dienstleistungssektor und konsumiert die Gesellschaft, für die man doch bewußtseinserweiterndes Theater machen wollte.

Aber wer weiß: Vielleicht läßt sie sich ja verkaufen, die Rückkehr zur Politik. Die Systemtheoretiker, abgezockt wie sie sind, meinen, Theater als System unterscheidet zwischen interessant und langweilig, nichts weiter. Mal erscheint es als interessant, gesellschaftliche Probleme zu thematisieren, mal will Theater wieder nur Theater sein, sonst nichts. Das entscheidet der Geschmack der Zeit. Wenn jetzt also das Pendel wieder in Richtung Engagement und gesellschaftliche Relevanz auszuschlagen scheint, dann wäre das einfach, um der gepflegten Langeweile des Postpolitischen zu entgehen. Eine Betrachtungsweise, die einem angesichts der Leidenschaft einer Hannah Hurtzig doch etwas zu trocken erscheint. Aber in Luhmanns Zettelkasten hat wohl auch noch niemand Theaterkarten gefunden.

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