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Truchseß der Antike

■ Premiere von John Neumeiers neuer Choreografie „Odyssee“

Bei John Neumeier ist immer alles subjektiv. Der Krieg, die Männlichkeit, die Weiblichkeit, das Sehnen, das Kämpfen und leider auch die Analyse. Deswegen sind Neumeiers Bühnengestalten reine Empfindungswesen, Taumelnde im Glücksrad, denen der Choreograf die Reflexion über ihr „Schicksal“ verweigert. Neumeiers gefühliger Kosmos kennt – was bei Märchen, Musicals und vertanzten Sinfonien vielleicht auch nicht so wichtig ist – keine bewußte Politik, keine Erkenntnis gesellschaftlicher Zusammenhänge, keine Macht- und Interessenslogik. So gesehen ist John Neumeier vielleicht ein legitimer Truchseß der Antike, ein in Zorn und Glaube Zurückgebliebener.

Da mag er sich gedacht haben, daß einer der komplexesten Menschheitsmythen, Homers Odyssee, seiner eigenen Befindlichkeit sehr nahe kommt. Also machte er sich in der grausamen Verwechslung von Mythos und Märchen ans Werk, in Konkurrenz zu Homer und James Joyce zu treten. Psychoanalytische und historische Dekonstruktionen des antiken Vorbildes interessierten ihn dabei allerdings ebensowenig wie eine klare Stellungnahme zu den Brüchen in der homerischen Gestalt oder das mögliche Bild eines heutigen Militärs. Neumeiers zweieinhalbstündiges Ballett Odyssee handelt einfach von einem, der auszog, seinen „femininen Teil“ wiederzufinden (Neumeier).

Eine Herangehensweise, die sich aber nur für die Oberfläche einer Geschichte interessiert, hat als Helden logischerweise eine Hülse. Neumeiers Odysseus Ivan Liska muß den Vietnamkrieg (für Neumeier sind alle Kriege einer) ebenso ferngesteuert mitmachen wie hippieskes Petting am griechischen Strand mit Kalypso oder eine George-Michael-Kopie des heimkehrenden Helden. Ein Freudenfest weißer Hüpfer für den hochgereckten blonden Held mit nacktem Oberkörper und seine streng gekämmte blonde Gattin leistet sich als ein bitterer Gipfel schließlich sogar die (sicherlich unfreiwillige) Rufweite zur Naziästhetik.

Aber solche Aussetzer – ein weiterer ist das Fest mit Nymphchen und Dorfschönheiten beim Herr der Winde Antinoos, das so entsetzlich folkloristisch verkitscht ist, daß es Säure in Lauge verwandeln könnte – sind nicht der Grund für die Katastrophe. Und wenn man es rein ästhetisch betrachtet, hält Neumeiers zunehmende Geschmacklosigkeit in Kitsch und albernem Pathos noch immer die Waage mit schönen Bild- und Choreografie-Einfällen.

Die Schelte muß der ideologischen Verbrämung gelten, mit der Neumeier Geschichte als buntes Schicksalsmärchen erzählt. Es reicht nicht, Odysseus und seine Matrosen in Armeehosen zu stecken und sie elegant Meuchelei tanzen zu lassen, um etwas über den Krieg zu erzählen. Es reicht ebensowenig, die Odyssee einfach als Sage zu nehmen, der man mit einem spirituellen Gemisch aus Buddhismus, Schamanismus und „sensiblem Christentum“ die Wendung zur Therapie-Geschichte für einen Macho geben will. Und schließlich ist es von einer kaum mehr erträglichen Naivität geleitet, wenn man die ganze Odyssee nur als ein stereotypes Wechselspiel aus Unheil und Harmonie darstellen kann. Wenn der zentrale Angelpunkt eines Mythos nicht mehr der Konflikt – sei es in seiner symbolischen oder offensichtlichen Natur – ist, dann sollte man ihn nicht aufs Theater bringen, sondern dem christlichen Comic überlassen.

Bleibt zu sagen, daß die äußerst perkussive und auf Soloinstrumente aufbauende Musik von George Couroupos, die von Markus Lehtinen sicher umgesetzt wurde, eine wirkliche Entdeckung darstellt.

Till Briegleb

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