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„Sucht hat eine ganz eigene Dynamik“

■ Angehörige engagieren sich für akzeptierende Drogenarbeit und konkrete Hilfen Von P. Faller

„Heute hab' ich Glück gehabt“, sagt die 67jährige Hilde und zeigt auf eine Plastiktüte. Die abgewetzte, aber sonst gut erhaltene Lederjacke darin soll die obdachlose Frau gegen Wind und Wetter schützen. Ein junger Junkie greift in das Knäuel gebrauchter Klamotten auf dem Tapeziertisch und zieht eine Jeans an Land. Ein Fehlgriff. Viel zu lang. Schals, Mützen, Pullover und Handschuhe sind heiß begehrt an diesem klirrend kalten Abend im Dezember. Noch gefragter sind die Essenspakete, die die „Eltern- und Angehörigeninitiative für akzeptierende Drogenarbeit“ bei ihrer monatlichen Aktion am Hamburger Hauptbahnhof austeilt.

„Wir wollen den Drogenabhängigen und Obdachlosen zeigen, daß es Leute gibt, denen sie nicht egal sind“, erklärt Vorstandsmitglied Rainer Elling. Auch seine Tochter war einst in der trostlosen Szene am Hauptbahnhof anzutreffen. Heute ist sie im Methadon-Programm.

Ganz schön unsicher seien die Ini-Mitglieder beim ersten Mal gewesen: Wie würden die Junkies und Obdachlosen reagieren?

Essenspäckchen finden am Bahnhof reißenden Absatz

Würden sie sagen, haut doch ab mit eurem Scheiß? Das Gegenteil war der Fall: „Die Leute sind dankbar, daß sich jemand um sie kümmert“, sagt Edda Peuster. Sie greift in den Karton auf dem Kofferkuli und holt ein Lebensmittelpäckchen heraus. Das drückt sie dem hageren Manfred in die Hand. Der 34jährige hat sieben Jahre Heroin gespritzt. Seit diesem Monat wird er substituiert, wohnt im Hotel und lebt von Arbeitslosenhilfe. Er findet es gut, daß es Leute gibt, die bei diesem Wetter nicht nur hinterm Ofen sitzen.

Manche nehmen sich nur ein Tütchen mit Joghurt, belegtem Brot, Süßigkeiten, Obst und Saft. Andere wollen ein bißchen reden. Traurige Geschichten von minderjährigen Ausreißern oder Verstoßenen bekommt Edda Peuster meist zu hören. Besonders trist sind sie am Hansaplatz, wo die Initiative immer sonntags präsent ist, um Spritzen, Alkoholtupfer, Essen und Getränke auszugeben. Die Mitglieder informieren die Suchtkranken auch über das Methadon-Programm.

Betroffene Angehörige sind oft glaubwürdiger als Experten

„Wir haben erfahren und gelernt, daß die Behauptung, nur eine Abstinenztherapie führe aus der Sucht, nicht allgemeingültig ist“, heißt es im Konzept der Selbsthilfe-Initiative, die vor fünf Jahren aus der Arbeit der Drogenberatungsstelle „Palette“ entstand und heute 150 Mitglieder hat. Akzeptierende Drogenarbeit sei häufig der erfolgreichere Weg, um das Leben der Betroffenen zu stabilisieren. Wertvolle Arbeit leiste die Gruppe, wenn es darum geht, diese Idee zu verbreiten, bestätigt Rainer Schmidt, Geschäftsfüher der Palette. Als Betroffene hätten ihre Forderungen nach Entkriminalisierung des Drogenkonsums, Abgabe von Methadon oder kontrollierter Abgabe von Heroin sowie nach mehr Entgiftungsräumen mehr Gewicht, als wenn Fachleute dafür plädierten, denn: „Die Mitglieder signalisieren nach außen, hier geht es nicht um irgendwelche heruntergekommenen Typen, sondern um unsere Kinder.“

„Sucht zu akzeptieren ist schwer für die meisten Eltern“, erklärt das Vorstandsmitglied Rainer Elling. Immer wieder stelle sich dabei die Frage nach der Schuld, weshalb sich viele Eltern in eine übertriebene Fürsorge flüchteten. Seine Solidarität mit der 30jährigen Tochter reichte so weit, daß er selbst daran dachte, sich einen Schuß zu setzen, wenn sie neben ihm auf dem Sofa saß. „Man muß sich abgrenzen können“, hat er gelernt.

Eine Gruppe setzt sich mit Tod und Sterben auseinander

Andere Eltern verfallen ins andere Extrem: Es schade nichts, wenn ihre Kinder mal ins Gefängnis wandern. Doch von der Theorie, erst wenn die Suchtkranken „so richtig in der Scheiße“ waren, können sie den Drogen abschwören, hält Elling nichts.

„Sucht hat eine ganz eigene Dynamik“, sagt er. Das entdecken die Eltern und Angehörigen in verschiedenen Gesprächskreisen, in denen sie ihre Erfahrungen austauschen. Auch Angehörige bereits verstorbener Suchtkranker finden dort Hilfe.

Gefördert wird die Selbsthilfe-Initiative – eine von zwei in Hamburg eigenständig existierenden Gruppen für Eltern und Angehörige – von der Gesundheitsbehörde mit 70.000 Mark im Jahr. Die Aktion am Hauptbahnhof, die es jeden ersten Mittwoch im Monat und an Heiligabend gibt, muß über Spenden finanziert werden.

„Wenn wir mehr Geld und mehr Zeit hätten, könnten wir das viel öfter machen“, erklärt Elling. Nicht einmal eine Stunde hat es gedauert, bis alle Lebensmittelpäckchen wegwaren. Und das, obwohl es heute ein ruhiger Abend war. Ob es an der Kälte oder an der Razzia vom Vortag lag? Die Ini-Mitglieder sind gerade am Einpacken, als noch ein Junkie ankommt und enttäuscht ausruft: „Wie, schon alles weg?“ Er muß mit einem Apfel und dem Versprechen abgespeist werden: „Am Heiligabend sind wir wieder da.“

Spendenkonto: Hamburger Sparkasse, Konto 1228/121560.

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