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Identifikation ohne Beugehaft

Auch eine Geschichte der Postmoderne: Das Schauspielertheater entdeckt die Figürlichkeit und das Figurentheater den Schauspieler. Metaebene gibt's gratis  ■   Von Sabine Leucht

„Die Puppen und Wachsfiguren existierten immer an der Peripherie der sanktionierten Kultur. Weiter durften sie nicht. In JAHRMARKTBUDEN waren sie zu Hause, in zwielichtigen GAUKLER-KABINETTEN, weit entfernt von den glänzenden Tempeln der Kunst, von oben herab betrachtet als KURIOSA, die den Geschmack des Pöbels befriedigen.“ (Tadeusz Kantor)

Wenn der Mensch auf den Menschen blickt, hat er sich selbst vor Augen: sein Lachen im Lachen des anderen und sein zagendes Schweigen in dessen stimmlicher Fülle. Das fremd-vertraute Gesicht enthält die Antwort auf meine Fragen – und schickt meine Antworten zurück in die Suppe des Zweifels. Doch wann sehen Menschen Menschen wirklich an? So daß sie mehr entdecken als den neuesten Pickel und die immer gleiche Frisur?

John Wright, Lehrer für Maskenimprovisation aus London, demonstrierte kürzlich im Münchner Fast-food-Theaterhaus die verblüffende Wirkung eines simplen Tricks: Man lege Daumen und Zeigefinger beider Hände als Brille um die Augen und fixiere seinen ebenso vorbereiteten Nebensitzer. Wetten, daß die Scham verzischt und die albernsten Grimassen wie von selbst die Lücke füllen? Das ist der Kredit, von dem das Theater zehrt: die Maske, die künstliche und künstlerische Geste als Entblößungshilfe und zur Erleichterung beim Hinschauen, Rollen und Figuren als Verständniskrücken zwischen Mensch und Mensch.

In den letzten drei Jahrzehnten, in denen sich das Schauspieltheater von seinen papiernen Geschichten emanzipiert hat, ist es von einer Kunst des Was zu einer Kunst des Wie geworden. Im Bilder- oder geschäftigeren Aktionstheater wuchsen spielender Mensch und zu spielende Figur gemeinsam in ein neues Leben hinein.

Ein Leben als Summe von Gesten und Zeichen – bei Robert Wilson oder Achim Freyer sieht man es eingeschlossen in seine eigene Manieriertheit. Simon McBurneys Theatre de Complicite spielte vor vier Jahren mit „The Three Lifes of Lucie Cabrol“ die natürlichste aller Kunstwelten herbei, ein erdfarbenes Leben, in dem die Dinge sich vertraulich an die Menschen schmiegen und ein Kuhstall samt Tränke sich ganz selbstverständlich zu den „Rollen“ gesellt. Gleichzeitig dekorierte Andrej Woron in seinem Berliner Kreaturentheater Erd- und Schlammtöne mit malerischen Lumpen und Puppendoubles, die seinen Schauspielern aus den Hüften wachsen.

Die Figuren kommen, und sie kommen weit. Mit Worons „Ende des Armenhauses“ immerhin bis zum Berliner Theatertreffen. Und durch Tom Kühnels und Robert Schusters Frankfurter Inszenierungen beider Teile des „Faust“ wurden die Handpuppen von Suse Waechter sogar in den ehrwürdigsten Feuilletons der Republik beachtet.

Doch nicht nur am Main engagiert man mittlerweile geichberechtigt Spieler aus Stoff, Holz oder Pappmaché, wie die „Zwanzigste Woche“, das internationale Figurentheaterfestival in München, im Mai deutlich zeigte. Das Freiburger Theater im Marienbad stellte dort in „Perô oder die Geheimnisse der Nacht“ den Figuren des melancholischen Perô und der eigensinnigen Colombina – beide ebenfalls aus der Waechterschen Werkstatt – Schauspieler als Führer und Partner zur Seite. Gemeinsam erzählen sie eine Liebesgeschichte mit soviel Pathos, wie diese nur fassen kann. Das Ergebnis ist eine farbenfrohe Häkelarbeit, die nach jeder zweiten Masche Kitsch eine freche Schlaufe dreht: „Ätsch!“ Was die Figur aufbaut, wird vom Schauspieler gebrochen und vice versa. Gemeinsam sind sie stark.

Der Mensch ist keine erdenthobene Übermarionette, und er ist nicht der Weltenlenker. Zwar gibt es diesen Menschenentwurf, doch in der Wirklichkeit, da ist der Mensch nicht viel. Genauer: Er ist vieles. Postmodern, aber wahr. Wenn Frank Castorfs Volksbühnen-Schauspieler ihre Rollen kollektiv mit Spott überziehen und Christoph Marthaler in Hamburg Fausts und Gretchens gleich im Bündel auf die Bretter schickt, dann transportiert dieses offenbare Mißtrauen in die Erzählbarkeit des Menschen auch einen metatheatralischen Kommentar.

Beides gibt es im Figurentheater gratis: Spielt es mit Puppen, Objekten oder Schatten – immer stammt es aus der Küche des Alchimisten, der der toten Materie Leben einhaucht. László Hudi, dem Leiter der ungarischen Schauspieltruppe Mozgó Ház Társulás, deren skurril-poetische Arbeiten schon deutsche Festivalberühmtheiten sind, fiel nach der unverhofften Einladung seiner Gruppe zu einem Figurentheaterfestival ein schöner Kantor-Halbsatz ein: „Die Rolle ist das Tote“ – und damit wie eine Puppe, die sich ihrem Lenker verdankt, wenn sie auch nie mit ihm verschmilzt.

Während sich der Schauspieler den Abstand zu seiner Figur noch mühevoll erspielen muß, kann das Figurentheater gleich frei damit jonglieren. Die intimsten Dialoge zwischen Figur und Spieler sind der Handspring Puppet Company aus Johannesburg gelungen. In ihrem „Woyzeck on the Highveld“ führen je zwei Puppenspieler eine der halbmeterhohen Figuren, die Adrian Kohler mit holzschnittartig vergröberten Charakterköpfen ausgestattet hat. Bald scheint es, als würden die Spieler die Figur hypnotisieren und damit selbst in ihr verschwinden. Dann wieder erschaffen liebevoll verwunderte Blicke ein Wesen mit drei Köpfen. Und ohne daß man noch recht weiß, wie es geschah, schieben sich die Puppen als Schauspieler vor ihre Geschöpfe.

Der in Amsterdam arbeitende Australier Neville Tranter hat Anfang des Jahres mit lebensgroßen Klappmaulpuppen die Sterbensgeschichte Molières als Mischung aus finsterem Slapstick und Commedia dell'arte inszeniert. Seine Stuffed Puppets haben Glupschaugen und Riesenpranken. Der Australier macht sie lebendig als narzißtische Schießbudenfiguren und zeigt dahinter ihre Menschlichkeit. Und schließlich ist er selbst ein Spielstein auf seinem eigenen Brett, hin und her geschoben von den Kreaturen.

Die Arbeit an der Selbstabschaffung ist ältestes Theaterhandwerk. Doch nirgendwo liegt das Instrumentarium so bloß wie im Figurentheater, dessen ästhetisches Potential noch immer unterschätzt wird. Den Großereignissen in den Kulturtempeln sieht man ihre Hölzernheit nach, doch daß eine reine Figurentheaterproduktion wie „Wagners Ring“ von den Nürnberger Tristans Kompagnons in der Fachpresse besprochen wird, ist noch immer die Ausnahme.

Die Formel Figurentheater = Kaspertheater + Augsburger Puppenkiste = kindisch ist so langlebig wie falsch. Figurentheater muß nicht allen Geschichten die gleiche Form überstülpen. Es kann die Bilder auch zum Tanzen bringen. Bei Stefan Weys Meininger Version des „Standhaften Zinnsoldaten“ etwa verwandeln fliegende Schatten an den Wänden ein weißes Zelt zum Spukschloß der Phantasie.

Doch es funktioniert auch anders: Fast als Meditation hat der georgische Puppenspieler Reso Gabriadse 1996 sein „Wolgalied“ auf die Bühne gebracht. Ein winziger Stabsoldat gräbt in einem Sandhaufen nach Utensilien vom Krieg und denkt dabei an Stalingrad. Sicher eine der leisesten Varianten eines reichen Genres, das das Nicht-Echtsein der Kunst ganz offen vor sich herträgt. Und doch zieht es einen auf seltsame Art zuweilen ganz nah an sich heran.

Probieren wir es zum Schluß mit einer anderen Formel: Figurentheater = Identifikation ohne Beugehaft. Während ein Teil von mir mit dem Theater auf die Reise geht, bleibt ein anderer Teil – wie haben die das gemacht? – am Boden kleben. Ich kenne die Falle, in die ich tappe. Schließlich habe ich Lars Frank vom Puppentheater der Stadt Halle die kleine Opa-Puppe an den Haken hängen sehen, und dennoch flossen die Tränen über ihren Tod. Ihren? Seinen? Den Tod eines Menschen. Aber ohne alles Menschelnde.

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