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Skandierende Zigarren

Die Umdeutung des Banalen: Zeichnungen von Sigmar Polke in der Galerie der Gegenwart und in der Admiralitätsstraße  ■ Von Hajo Schiff

Nicht erst die große Retrospektive 1997 in Bonn und Berlin bewies: Er gehört unbestritten zu den wichtigsten deutschen Künstlern.Die Zeitschrift Capital setzt Sigmar Polke in ihrer Liste der hundert größten zeitgenössischen Künstler auf Platz drei, und Kunsthallen- Direktor Uwe M. Schneede bezeichnete ihn bei der gestrigen Eröffnung der Ausstellung von Papierarbeiten als den einzigen wirklichen „Ikonographen der Bundesrepublik“.

Mehr noch als in seiner Malerei ist in den frühen Zeichnungen das Repertoire seiner ironischen Zitate aus dem langsam satter werdenden Angebot des westdeutschen Alltags zu entdecken: Hakenkreuze, Heftzwecken und „Hemden in allen Farben“. Werbung und Medien werden aufmerksam überprüft und dann zeichnerisch isoliert oder in neuen Zusammenhängen zitiert, wobei der Witz oft gerade in den „scheinbar dümmlichen Bildmotiven“ (Bice Curiger im Katalog) liegt.

Aus einem kugelschreibergekritzelten Quadratraster entwickelten sich Berge zu „Gestrickten Alpen“, und ein einfaches Punktraster wird bedeutend als „Junge Erbsen“. Ulbrichts Bart kommt als Form des russischen Konstruktivismus daher, Ufos wie aus Comicheften schwirren herum, und Kartoffelköpfe gucken schräge. Hamburg ist die einzige europäische Station der Ausstellung, die aus dem New Yorker Museum of Modern Art übernommen wurde. Die dortige Kuratorin Margit Rowell sichtete über tausend Polke-Blätter. Aber eine Gesamtschau hätte jeden Rahmen gesprengt. So geht es hier um den wichtigen Beginn ab 1963 und endet mit den bis zu 3,81 mal 5,18 Meter großen, saalfüllenden Großblättern der frühen siebziger Jahre, die den Betrachter in einen delirierenden Strudel reißen.

Sigmar Polke wurde 1941 in Schlesien geboren, studierte in Düsseldorf und war 1963 Mitbegründer des „Kapitalistischen Realismus“ als deutscher pop-art- Variante. In Hamburg tauchte er schon von 1970 bis 71 als Gastdozent auf und war dann zwischen 1977 und 91 Professor an der Hochschule für Bildende Künste. Inzwischen ist er mit Auszeichnungen und einem guten Dutzend international bedeutender Preisen so sehr überschüttet, daß er es vor kurzem nicht einmal für nötig hielt, auch nur zu antworten, als ihm in Israel ein weiterer hochdotierter Preis verliehen werden sollte.

Aber das mußte ja so kommen. Schon 1969 machte der Künstler, für den die Naturgesetze vom moralischen Standpunkt aus betrachtet ein Skandal sind, eine folgenreiche Entdeckung: Der Sternenhimmel am 24. 6. um 24 Uhr zeigt als Sternbild den Namenszug S. Polke! Und wer so sehr mit dem Weltgeist verbunden ist, dem kann eigentlich auch die Skizze von der Zigarrenkiste, die die Tabakrollen lustig verlassen nur als Prophetie ausgelegt werden: „Wir sind die Zigarren!“ rufen sie und laufen davon, 27 Jahre vor dem Ende der DDR.

Ganz neue Arbeiten, an denen am Montag noch gearbeitet wurde, zeigt in Kooperation zeitgleich die Galerie Jürgen Becker. Dort sind bildmäßig blauweiße Metallic-Farben auf schwarzen Karton und über Siebdruck-Motive gekippt und weitere, bisher unveröffentlichte frühe Zeichnungen zu sehen, darunter auch eine Gruppe, die aus Zeitungen geschnittenes Textmaterial kommentiert.

Und wem angesichts soviel polkischer Zeichenkombinatorik und der Kombination von Kartoffelpyramiden und Tapetenmustern, erotischen Anspielungen und Umdeutungen des Banalen schließlich schwindelig wird, dem stellt die beruhigend schön gehängte Ausstellung im dritten Stock der Galerie der Gegenwart auf einer Zwischenwand eine letzte Frage: „Stiftet der Sinn die Beziehung oder stiftet die Beziehung den Sinn?“

„Sigmar Polke – Arbeiten auf Papier 1963 bis 1974“, Hamburger Kunsthalle, bis 17. Oktober. Erstaunlich bunter Katalog im Hatje Cantz Verlag: 200 Seiten, 326 Abbildungen, 39 Mark. „Sigmar Polke – Arbeiten auf Papier 1963 bis 1999“, Galerie Jürgen Becker, Admiralitätstraße 71, Di – Fr, 11 – 18 Uhr; Sa 11 – 15 Uhr, bis 16. Oktober (aber im August geschlossen)

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