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Brutale Rationierung zu Lasten der Patienten

betr.: „Ich kann es nicht mehr hören“, taz vom 8. 7. 99

Es ist sehr erfreulich, daß Frau Ministerin Fischer durch ihre Gesundheitsreform kaum Arbeitsplätze bedroht sieht. Verwunderlich ist aber dann, und zu hinterfragen, warum die Gewerkschaften der Arbeitnehmer in der Pharmaindustrie mehrfach im Gesundheitsministerium vorgesprochen haben und auf einen Verzicht auf der sogenannten Positivliste drängen.

Frau Ministerin Fischer versäumt es selten, darauf hinzuweisen, daß Ärzte zuviel sogenannte Innovationen bei Arzneimitteln verordnen. Dies müßte sie eigentlich Krebskranken, Aidspatienten und an Multipler Sklerose Erkrankten sagen. Ein Beispiel für solche innovative Arzneimittelbehandlung ist die Multiple Sklerose. Seit einigen Jahren kann diese mit Interferon behandelt werden, und die Patienten müssen erst vier bis fünf Jahre später in den Rollstuhl. Dies bedeutet vier bis fünf Jahre wesentlich bessere Lebensqualität. Die bisherigen medikamentösen Behandlungen kosteten zirka 700 Mark im Jahr. Die Behandlung mit Interferon kostet 29.000 Mark im Jahr. Als Hals-Nasen-Ohren-Arzt und Umweltmediziner habe ich für einen meiner Patienten ein Arzneimittelbudget von 72 Mark im Jahr. Diese Vergleiche müssen Anlaß zum Nachdenken geben. Dies bedeutet, daß mit dem Geld für einen MS-Patienten 400 HNO-Patienten behandelt werden können. Ein solches Dilemma kann kein Arzt in seiner Sprechstunde entscheiden!

Hinzu kommt, daß im Gesundheitsreformgesetz 2000 vorgesehen ist, die regionalen Arzneimittelausgaben in einem sogenannten „Bench-Marking“-Verfahren jährlich festzulegen. Dies bedeutet eine Orientierung am Durchschnittswert der drei billigsten Regionen in Deutschland. Was dies für manche Regionen Ostdeutschlands, zum Beispiel Sachsen-Anhalt, bedeuten wird, kann man sich nur andeutungsweise vorstellen. Dort liegen die Arzneimittelausgaben doppelt so hoch wie in den alten Bundesländern! Aber nicht, weil die Ärzte viel verordnen, sondern aufgrund der hohen Erkrankungsraten in der Bevölkerung.

Aus meiner Sicht ist diese Art der Verknappung von Geldmitteln eine stille, aber brutale Rationierung zu Lasten der Patienten. Die Auswirkungen und Diskussionen haben wir Ärzte tagtäglich in unseren Sprechstunden zu spüren. Deshalb kann ich es nicht mehr hören, wenn die Politiker uns Ärzte zwingen wollen, den Mitbürgern moderne Medikamente und moderne Operationsverfahren zu verweigern. Michael P. Jaumann, Arzt für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Stimm- und Sprachstörungen, Umweltmedizin, Göppingen

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