: In der Hand der Märchenprinzen
■ Songs von Gott, Teddys von vielen kleinen und wohlerzogenen Mädchen und eine neue Zielgruppe: Die Backstreet Boys tobten wie junge Hunde über die Bühne des Velodrom
Wegen Unfallgefahr bittet noch vor dem Konzert der Backstreet Boys im Velodrom ein Sicherheitsmensch die Mädchen, ihre Mitbringsel sofort auf die Bühne zu werfen. Ganz folgsam wird daraufhin die obligate La-Ola-Welle auf den Rängen für einen Moment gestoppt, und es regnet unendlich viele Plüschtiere auf die Bühne. Ein paar Männer packen Müllsäkke voll mit Teddys, bunten Mäusen, niedlichen Kätzchen und süßen Hündchen. Jetzt kann es losgehen. Minutenlang überdeckt ohrenbetäubendes, schrilles Kreischen die ersten Takte der murmelnden Star-Wars-Ouvertüre.
Aus einem Kabuff gegenüber der Bühne schweben plötzlich die fünf Jungs an Drahtseilen übers Publikum. Auf der Bühne angelangt, werden Nick, Kevin, Brian, A. J. und Howie D. losgeschnallt und stimmen ihr erstes Lied an.
Hinter, neben und vor mir sitzen Mädchen neben ihren Müttern, mit weit aufgerissenen Augen, Mündern und Nasenlöchern. Eine sieht aus wie Lisa Simpson und hat sich „BSB“ auf die Wange gepinselt. Sie hält andächtig eins von den unzähligen bunten Leuchtherzchen hoch, die vorher teuer ans Publikum verscherbelt wurden. Weitab von der Bühne tanzen vier Freundinnen miteinander, wobei ihr Tanz weniger an den durchchoreographierten Simultantanz der Band erinnert als an spontane Ringelreihen.
Backstreet-Boys-Fans sind wie alle Boygroup-Fans meist weiblich und zwischen sieben und siebzehn Jahre alt. Oft verehren sie als Clique eine einzige Boygroup und teilen sich die Jungs so untereinander auf, daß es keinen Streit gibt. Träumt aus Versehen mal eine vom „Falschen“, wird dies Mißgeschick am anderen Morgen auf dem Schulweg ausführlich diskutiert. Echte Fans sammeln alles über ihre soo süüßen Lieblinge. Jeder Zeitungsschnipsel aus Bravo und Popcorn wird in kunstvoll gestaltete Poesiealben geklebt.
Egal, ob Schuhgröße, Hobby, Lieblingsfarbe, Lieblingsessen, Art der Erziehung oder Schulnoten – richtigen Fans kann man nichts vormachen, wenn es um ihre große Leidenschaft geht. Daß die Backstreet Boys zwar Waschbrettbäuche, aber kein Brusthaar haben, ihre mittelständischen Familien lieben, keine Affären haben, an Gott glauben und in Amerika Werbung für Milch machen, gehört deshalb dazu, weil es eben nicht um wirkliche Männer geht, die man täglich beim Frühstück sehen will, sondern um Träume und Schäume.
Wahre Fans kriegen augenzwinkernd ihre ersten hysterischen Anfälle, ihr Wille zu Ekstase und begeisterter Verzückung ist durch nichts aufzuhalten. Auch, wenn an diesem Abend alles schief laufen würde, wäre hier keine enttäuscht. Aber davon kann gar nicht die Rede sein. Die Backstreet Boys rocken das natürlich ausverkaufte Velodrom, wechseln ihre Kostüme unentwegt und toben über die Bühne wie junge Hunde. Kein Hit wird übersprungen, und die Show spart nicht mit Licht, Hebebühnen und Pyrotechnik. Nach dem ersten Kostümwechsel hält jeder einzelne eine kurze Ansprache.
Mädchenschwarm Nick, das jüngste, blonde, schwarze Schaf, entschuldigt sich für die Trennungsgerüchte. Er wäre schuld am Ende der Backstreet Boys, wenn er die Rolle von Robbie Williams bei Take That übernehmen und eine Solokarriere starten würde. Einer für alle, alle für einen – damit wäre es dann vorbei. Brian, der heimliche Favorit und Pausenclown, hat sich gerade von einer Herzoperation erholt. Ihm wird der Höhepunkt des Abends zu verdanken sein.
Auf „Millenium“, ihrem neuen und bisher erfolgreichsten Album, durchbrechen die Backstreet Boys zum ersten Mal das Retortenprinzip ihrer Hitfabrik Orlando. Sie betreiben Altersvorsorge. Ab und zu hat jetzt ein Song sogar etwas Aufreizendes. Echte Musiker liefern sich in den Pausen Jam-Sessions. Einmal spielt Bandpapa Kevin ganz toll Klavier. Und Brian hat zum ersten Mal selbst einen Song geschrieben.
Um sich nicht als Künstler von seinen Fans abzuheben, sagt er: „The song itself was a gift from God, I just wrote down the words.“ Das Lied, „The Perfect Fan“, handelt von seiner Liebe zur Mutter. Die Backstreet Boys haben sich dazu fünf Mädchen mit fünf Müttern, der neuen Zielgruppe, auf die Bühne geholt. Am Schluß borgen sie sich die Mädchen aus und drehen mit ihnen Hand in Hand ein paar Runden. Obwohl todsicher vorher geprobt: Das Herz bleibt fast stehen bei dieser Vorstellung. Von Anfang an dabei, seit vier Jahren Hardcore-Fan, und jetzt das: Sie haben es geschafft, halten Händchen mit ihrem Märchenprinzen und sind womöglich übermorgen mit ihm auf dem Bild in der Zeitung. Susanne Messmer
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