: Zuckerbrot und Peitsche
■ Von der Schwäche der linken Regierung profitieren die Islamisten
„Wir sind die letzte wirkliche Opposition“, sagt Nadia Yassine. Die junge Frau ist Wortführerin der marokkanischen Islamisten. Zwar hat sie innerhalb der verbotenen „Al Adl Wal Ihssane“(Gerechtigkeit und Geistlichkeit) keinerlei Funktion inne. Aber sie ist die Tochter von Abdessalam Yassine und gehört damit zu den wenigen, die den Vordenker des heutigen marokkanischen Islamismus im Hausarrest besuchen dürfen. Nadia ist das Sprachrohr ihres seit knapp zehn Jahren weggeschlossenen Vaters.
Al Adl Wal Ihssane stellt die Macht des Königshauses in Frage – vor allem aus religiösen Gründen: Der König ist laut Verfassung „Oberhaupt aller Gläubigen“, und „das Amt des geistigen Führer kann nicht erblich sein“, wiederholt Nadia den Satz, der ihrem Vater die Freiheit kostete.
Al Adl Wal Ihssane predigt soziale Gerechtigkeit. Sie verurteilt „die ungerechte Verteilung der Ressourcen“ und verspricht eine „wahre islamische Gesellschaft, die mit dem dekadenten System aufräumt“. Solche Worte fallen vor allem in den Slumgürteln der Großstädte auf fruchtbaren Boden. In der Sechsmillionenstadt Casablanca leben 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung in Baracken, meist ohne Anschluß an das Strom- und Wassernetz. Die Landflucht läßt die Elendsquartiere weiter wachsen. Dort organisiert Yassines Gefolgschaft Alphabetisierungskurse und kostenlose medizinische Beratung.
Das schafft Sympathien. 30.000 Menschen nahmen vor einem Jahr an einem von den Gruppen rund um Al Adl Wal Ihssane organisierten Feriencamp am Strand südlich von Casablanca teil. 100.000 Menschen folgten vergangenen Dezember dem Aufruf der Islamisten zu einer Demonstration gegen die US-Bombardierung des Irak.
Gleichzeitig schwindet die Hoffnung der Bevölkerung auf die Regierung mit jedem Tag mehr. Vor eineinhalb Jahren hatte Marokkos König Hassan II. in einem einmaligen Schritt der politischen Öffnung den Sozialisten Abderrahmane Youssoufi zum Regierungschef ernannt. Für wortreich angekündigte Programme zur Verbesserung der Schulbildung und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit fehlen aber die finanziellen Mittel. 30 Prozent der Marokkaner sind offiziell arbeitslos und 56 Prozent Analphabeten.
Noch nie gab es in Marokko so viele Streiks und soziale Proteste wie im vergangenen Jahr. Anders als früher läßt sie der als Hardliner geltende langjährige Innenminister Driss Basri zu. Die Islamisten profitieren vom Scheitern der einstigen Opposition an der Regierung. Die neun islamistischen Abgeordneten der gemäßigteren „A Twahid wa Al Islah“ (Reform und Erneuerung) von Abdelillah Benkirane wurden alle in den städtischen Armutsvierteln gewählt. Nachdem sie ihre Kritik am König als Führer aller Gläubigen einstellten, durften sie erstmals auf der Liste der „Demokratisch-konstitutionellen Volksbewegung“ (MPDC) des Unabhängigkeitsveteranen und engen Freundes von Hassan II., Abdelkrim Khatib, kandidieren.
Yassine durfte zuletzt 1996 sein Haus verlassen. Als er gleich beim ersten Freitagsgebet in der Stadtteilmoschee die Autorität des Königs anzweifelte, beendete die Polizei den Ausflug. Seither sitzt der 71jährige wieder nur wenige hundert Meter von der Wohnung seiner Tochter entfernt eingeschlossen in seinem Einfamilienhaus.
„Zuckerbrot und Peitsche“, nennt Tochter Nadia die Politik von Innenminister Basri, die es ihr seit geraumer Zeit ermöglicht, öffentlich aufzutreten. Im letzten Herbst stellte sie unter großem Publikumsinteresse das jüngste Buch ihres Vaters – „Die Modernität islamisieren“ – vor. „Nach außen hin läßt sich damit vermeintliche Meinungsfreiheit demonstrieren, nach innen hin tut es ihnen nicht weh. Denn wer liest hier schon?“ fragt sich die Tochter Yassines. Trotzdem sind bereits über 10.000 Exemplare verkauft. Und das, obwohl es auf Französisch geschrieben ist.
Unter den Studenten hat Yassine längst den Platz eingenommen, den in den 70er Jahren die Linke besetzte. Der Studentenverband „Unem“ ist fest in Hand von Al Adl Wal Ihssane. Noch haben die Islamisten keine Gewerkschaften unter ihrer Kontrolle. Aber mit der nächsten Generation der Hochschulabgänger kann sich das schon schnell ändern.
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