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Konzertbesuch eines übergewichtigen Nichtrauchers    ■ Von Karl Wegmann

„A Song for you“ – die Hazeldine-Weiber sind gerade dabei voller Inbrunst den toten Gram Parsons oral zu vergewaltigen. Bei der Zeile „I loved you every day and now I'm leaving ...“ denke ich: „Ein halbes Jahr. Ein ganzes halbes Jahr. Alle haben gesagt, nach einem halben Jahr ist es vorbei. Widerwärtige Lügner!“

Seit einem halben Jahr rauche ich jetzt nicht mehr, und nichts ist vorbei. Okay, die Sucht (30 Jahre exzessiver Nikotinmißbrauch) habe ich im Griff. Nicht aber das Verlangen. Was? Nein, nein, das ist nicht die Sucht. Das ist die Erinnerung an ein schönes, warmes Gefühl. Wenn nach einem tiefen Zug das Gift den Körper durchströmte, wurde alles ein wenig luftiger, bequemer, ruhiger, besser. Quatsch, Sucht! Ich habe ein Gefühl verloren – und ich will es wiederhaben!

Wilco haben endlich Hazeldine abgelöst. Ich stehe vor der Bühne, und Jeff Tweedy legt los mit „A shot in the arm“. Kaum hat er die erste Strophe („The ashtray says / You were up all night“) abgeliefert, da ist es da, das Verlangen. Früher, vor einem halben Jahr, hätte ich jetzt einen großen Schluck Bier genommen, mir eine angesteckt und die Show genossen. Bier ist da, Tweedy ist großartig – nur die Zigarette fehlt. Dieses Fehlen ist das Problem. Nicht die Sucht. Seit ich Rock-, Jazz-, Blues-, Pop- oder Folkkonzerte besuche gehören Bier und Zigaretten einfach dazu. Wenn man eine Droge wegnimmt ist, es nicht mehr dasselbe. Bei Opern ist das anders. Neulich bei „Don Giovanni“ (zwei Akte) habe ich in der Pause drei Bier geschafft, und alles war gut. Früher hätte ich drei Zigaretten und zwei Bier geschafft, also was soll's. Neben mir stehen die Mädels von Hazeldine und saufen und qualmen wie Künstler eben saufen und qualmen. Na klar, denke ich, ohne Nikotin hätten die niemals eine Zeile wie „Fuck me like Batman“ schreiben können, und ich proste ihnen zu. Aber sie beachten mich überhaupt nicht.

Ich dränge zur Theke durch und ordere noch ein großes Bier. Eigentlich sollte ich jetzt ein schlechtes Gewissen kriegen – das Ergebnis aus meinem Kampf gegen den Tabak sind 20 Kilo Übergewicht. Oh ja, Gesundheit hat ihren Preis. Als ich noch täglich zwei Schachtel weggepafft habe, hatte ich auch schon fünf Kilo zuviel. Aber was sind schon fünf Kilo? Jeder hat fünf Kilo zuviel! Nach zwei Wochen Strand (Urlaub ist die einzige Zeit im Jahr, in der ich mich mehr als nötig bewege) waren sie regelmäßig wieder weg. Doch jetzt, was mache ich mit 20 verdammten Kilos? Das Augustheft von Psychologie heute hat als Titelgeschichte „Neuer Spaß am Körper“. Untertitel: „Von Schlanken essen lernen“. So'n Blödsinn. Essen lernen brauch' ich nicht, das kann ich schon. Doch dieser Test „Welcher Eßtyp sind Sie?“ interessiert mich. Mal sehen, 30 Fragen, kein Problem. Ich falle durch, in sämtlichen Kategorien. Nach dem Testurteil bin ich ein „Impulsesser“ aber auch ein „hedonistischer Esser“, ein „Streßesser“, ein „Ablenkungsesser“ und ein „Stimmungsesser“. Alles zusammen! Ich bin eine gottverfluchte Freßmaschine. Gebt mir einen Strick, wo ist der nächste Balken!

Ich ordere noch ein Budweiser als Wilco die ersten Takte von „We're just friends“ anschlagen – und der dünne Jeff Tweedy zündet sich eine Zigarette an.

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