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Der Krieg auf der Straße

■ Jeden Tag bis zu 100 Kilometer auf Hamburgs Straßen: Fahrrad-Kuriere sind nicht nur sportlich, sondern arbeiten vor allem im heißen Sommer mit erhöhtem Gesundheitsrisiko

Die Hitze drückt. Der Mund ist trocken. Trotz allem rast Tina mit ihrem Rad auf die Kreuzung zu, bremst etwas ab und sieht dabei nach links und rechts. Das bunte Outfit und die gelbe Umhängetasche auf ihrem Rücken sind weithin sichtbar. Die Kreuzung ist halbwegs frei, also tritt die 28jährige in die Pedale, ohne auf das Rotlicht zu achten.

Soviel ist klar: Fahrrad-Kuriere tragen die Straßenverkehrsordung nicht unterm Arm. Zeitdruck und Konkurrenzkampf treiben die schnellen Boten zur Eile. Tina Kioutsouki fährt seit knapp drei Jahren rund 25 Touren und 80 Kilometer am Tag für einen Hamburger Kurierdienst. Ihre männlichen Kollegen bringen es gar auf bis zu 100 Kilometer. „Ausdauer, Schnelligkeit und geistige Fitness sind Voraussetzung“, erklärt die Griechin, „wer als Erster auf einen Funkruf reagiert und die schnellsten Wege kennt, bekommt die Tour.“ Nicht selten müssen sich die Abgesandten dabei mit aggressiven Autofahrern oder pöbelnden Passanten auseinandersetzen.

„Wenn ich nicht manchmal auf meine Vorfahrt verzichten würde, wäre ich schon längst überfahren worden“, vermutet Kollege Dirk Oehlen, seit sechseinhalb Jahren im Sattel: „Das ist Krieg.“ Fairness im Straßenverkehr existiert seiner Meinung nach nicht: „Jeder motzt jeden an“, verdeutlicht der 31jährige. Gerade vorige Woche hätten schon wieder drei Kollegen kleinere Unfälle gehabt.

Die Zauberformel der Velo-Kuriere liegt somit nahe: „ruhig und konzentriert bleiben“ – andernfalls ist der Job kaum zu bewältigen. Zwar ist immer wieder von den urban heroes, den Helden der Großstadt, die Rede, doch jeder Arbeitsrechtler würde sich angesichts der widrigen Bedingungen für Kuriere an den Kopf fassen: Den ganzen Tag über atmen die rund 350 cycle messenger der Stadt verstärkt Abgase ein, besonders kritisch ist es dieser Tage. Denn durch das heiße Wetter kommt obendrein eine erhöhte Ozonbelastung hinzu. „Das ist schon heftig“, meint Tina, „wer nicht permanent trinkt, bekommt das große Kotzen.“ Immerhin verbrauchen die Boten etwa fünf- bis sechsmal so viel Luft wie ein sitzender Autofahrer. Gleichwohl werden in der Bundesrepublik jährlich rund 30 Millionen Kilometer von Fahrrad-Kurieren zurückgelegt. Denn auf Stadttouren unter sieben Kilometern ist der radelnde Überbringer schneller als sein motorisiertes Pendant – erst ab 12 Kilometern gewinnt das Auto deutlich.

Das Gros der Boten ist allerdings nicht angestellt und hat daher für das Versicherungspaket selbst zu sorgen. Für das Funkgerät ist eine Kaution von 1000 Mark zu hinterlegen. Zudem tragen die Kuriere viel Verantwortung, wenn sie Geld, Zahnprothesen, Flugtickets und Blutkonserven transportieren. Denn sie haften für Beschädigungen oder Verspätungen – nicht der Arbeitgeber.

Trotz dieser vielen Nachteile hat der Beruf des Fahrradkurieres einen guten Ruf. Viele reizt die Vorstellung, sich als Einzelkämpfer in das Getümmel des Großstadt zu stürzen, neue Menschen kennenzulernen und in Büros oder Häuser vorzudringen, die für das allgemeine Publikum verschlossen bleiben. Skurrile Aufträge stehen dabei an der Tagesordnung: „Einmal“, erzählt Dirk, „musste ich einen Por-nofilm einkaufen und diesen als Geburtstagsgeschenk in eine Werbefirma bringen.“ Ein anderes Mal hatte er eine Lieferung Fischaugen für die Sezierung in einem Biologie-Seminar der Hamburger Uni im Gepäck. Der lebende Goldfisch, mit dem er einmal durch Hamburgs Straßen jagte, sei ihm eindeutig „willkommener“ gewesen.

Auch sportliche Vergleiche sind unter den Pedaleuren keine Seltenheit: Erst kürzlich nahmen 30 HamburgerInnen an der Weltmeisterschaft in Zürich teil. Jannes Schönefeld erreichte sogar das Halbfinale im Kurierrennen. Das Fazit war aber ohnehin einstimmig: „Erfolge sind egal. Hauptsache, man ist der Schnellste.“ Oliver Lück

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