piwik no script img

Dünne Luft für Russlands Wetterfrösche

Die russische Finanzmisere macht auch vor dem staatlichen Wetterdienst Rosgidromet nicht halt. Zahlreiche meteorologische Beobachtungsstationen mussten bereits geschlossen werden  ■   Aus Moskau Barbara Kerneck

Der französische Reisende Marquis de Custine zählte 1839 das Wetter neben der Korruption und den Straßen zu den drei größten Übeln Russlands. Die vergangenen Monate geben ihm nur recht. Der letzte November, zum Beispiel, war auf dem Gebiet der heutigen russischen Föderation der kälteste seit über 120 Jahren. Dafür ertranken wöchentlich von Mitte Juni dieses Jahres bis zum letzten Juli-Drittel um die hundert MoskauerInnen, weil es sie bei Höchsttemperaturen um die 35 Grad wie die Lemminge in Flüsse, Teiche und Brunnen trieb, wo ihnen oft nicht nur von außen das Wasser bis zum Halse stand, sondern auch von innen der Wodka.

Bei extremer Wetterlage steigt die ohnehin hohe Neigung der russischen Bürger, auf die Politiker zu schimpfen - und den Politikern bleiben als Sündenböcke nur noch die Meteorologen. Kurz vor seiner Auflösung stand deshalb bereits letztes Jahr der staatliche russiche Wetterdienst Rosgidromet. Viele Politiker warfen dieser Behörde vor, sie nicht adäquat auf Klima-Kataklysmen vorbereitet zu haben. Ende April 1998 verordnete Präsident Jelzin mit einem Ukas die allmähliche Auflösung des Dienstes. Seine Funktionen sollte schrittweise das staatliche Kommitee für Ökologie übernehmen. Das, allerdings, verfügt nicht einmal über den Bruchteil der dafür notwenigen Mittel. Russland wäre damit das erste Land der Welt ohne selbständigen hydrometeorologischen Dienst geworden.

Obgleich die Auflösung des Dienstes abgewendet werden konnte und Jelzin seinen Ukas inzwischen zurückgenommen hat, entwickelt sich Russland zunehmend zur Black Box im Wetter-Monitoring auf der nördlichen Halbkugel. Nicht etwa, weil die offiziellen Wetterfrösche Chaoten wären. Schuld sind die spärlichen russischen Haushaltsmittel in den letzten Jahren, die zu einer gefährlichen Ausdünnung der offiziellen staatlichen Beobachtungsstationen seit 1992 geführt haben.

Um die 800 Stationen wurden seit jenem Jahr auf dem Gebiet der Russischen Föderation geschlossen und in diesem Jahr kommen etwa 50 weitere hinzu. Als guter Standard gilt weltweit eine Station auf 4.000 Quadratkilometer. Im Ural und in Asien weist Russland diese Dichte längst nicht mehr auf. An 124 Punkten im Lande sollen Radiosonden zweimal am Tage in die Höhe steigen, dort Temperatur, Windgeschwindigkeit und Feuchtigkeit messen und die Daten über den internationalen meteorologischen Austausch nach Washington weitergeben. Weil aber solch eine Sonde über 100 Dollar kostet, wird sie auf manchen Stationen nur einmal am Tag gestartet und auf anderen überhaupt nicht. „Da kann schon mal ein ein ganzes Tiefdruckgebiet durch den Raster fallen“, sagt freimütig Viktor Alexandrowitsch Trenin von Rosgidromet: „Und solche Fehler fressen sich dann durch die ganze Welt fort“.

Während der meteorologische Dienst in der UDSSR über 100.000 Mitarbeiter hatte, beschäftigt Rosgidromet nur noch 38.000. Für den üblichen Feld-Wald- und Wiesen-Wetterwart gibt es dabei nur 200 Rubel (etwa 17 Mark) Gehalt im Monat. Die Angestellten in der Provinz leben von selbstangebauten Kartoffeln und sammeln - unter sorgfältiger Berücksichtigung aller klimatischer Faktoren - Beeren und Pilze. Schwerer haben es schon die wissenschaftlichen Mitarbeiter in Moskau, darunter bekannte Gelehrte, von denen viele nur 600 Rubel erhalten. Selbst diese Leistungen sind nur möglich, weil der Wetterdienst der Russischen Föderation nahezu zur Selbstfinanzierung übergegangen ist. 320 Millionen Rubel soll er dieses Jahr aus dem Staatshaushalt bekommen, 250 Millionen will er selbst erarbeiten. 80 Millionen hofft er von regionalen Ämtern zu erhalten. Mit alledem kommt der Rosgidromet nur auf die Hälfte der Summe, die er eigentlich bräuchte.

Das „eigene“ Einkommen erarbeitet der Dienst, indem er für große staatliche und kommerzielle Strukturen Prognosen erstellt: etwa für den Erdgas-Giganten GASPROM. Im Winter 1986/87 konnten die öffentlichen Heizwerke Russlands dank zuverlässiger Prognosen, die den außergewöhnlich warmen Winter vorhersagten, 14 Millionen Tonnen Heizgut sparen. Das waren insgesamt 10 Prozent ihres Gesamtaufkommens.

Immerhin moralische Unterstützung wurde dem komatösen Rosgidromet letztes Jahr von der Weltmetereologie-Organisation (WMO) zuteil. Sie ließ Präsident Jelzin wissen, dass Russland im Falle der Auflösung des Dienstes der Ausschluss aus dieser Organisation drohe, deren Gründung 1873 nicht zuletzt auf eine russische Initiative hin erfolgt war. Russland war vor 165 Jahren nämlich das erste Land der Welt, das einen staatlichen meteorologischen Dienst einführte.

Die letzte wichtige Anschaffung des russischen Wetterdienstes im 20. Jahrhundert war 1996 der Supercomputer CRAY. Dank seiner Leistungen im Moskauer Hauptquartier gehört der Rosgidromet heute immer noch zu den drei größten meteorologischen Zentren der Welt neben Melbourne und Washington. Ansonsten lebt der Rosgidromet schon viele Jahre von seiner Substanz. Die in den 80er Jahren gebauten und weltweit immer noch einzigartigen meteorologischen Eisbrecher Akademik Fjodorow und Michajl Somow versorgen brav die arktischen Stationen und den Antarktis-Camp der russischen Meteorologen. Aber das knappe Dutzend der einst in Odessa und Sewastopol stationierten Schiffe der meteorologischen Schwarzmeerflotte ist heute für die Wissenschaft abgeschrieben. Ihre Besatzungen leben davon, Kleinhändler in die Türkei zu transportieren. Etwas standesgemäßer hat sich die meteorologische Flotte in Wladiwostok verkauft, sie misst für Japan Radioaktivität und Umweltverschmutzung im Pazifik. Von Sankt Petersburg aus arbeiten etwa zwanzig Wetterschiffe auf Kontraktbasis mit Norwegen.

Dass Russische Meteorologen Wetter nicht nur vorhersagen, sondern auch machen können, hat dem Rosgidromet zu einem weiteren Export-Artikel verholfen. Zum ersten Mal Gebrauch von ihrer Fähigkeit machten sie nach der Tschernobyl-Katastrophe. Tagelang verhinderten sie damals Regen, so dass sich der Staub aus der radioaktiven Wolke nicht in den Flüssen der Ukraine niederschlagen konnte. Ein zweites Mal im großen Maßstab wurde Regen während 1995 der Siegesfeiern zum 50. Jahrestag des Weltkriegs-Endes in Moskau verhindert. Umgekehrt erzeugen russische Spezialisten heute In vielen Dürrezonen der Welt Niederschläge, indem sie künstliche Kondensationskerne in den Wolken schaffen: in China, in Syrien und im Iran. In Argentinien bekämpfen sie regelmäßig Hagel und in Italien verscheuchen sie den Dauernebel um den Flughafen Triest.

„Wir haben eine kritische Grenze erreicht, aber in diesem Jahr ist es uns wenigstens gelungen, uns an ihr zu stabilisieren“ verkündet frohgemut Viktor Alexandrowitsch Trenin von der Moskauer Rosgidromet-Zentrale. Zwar nahm am 15. Februar ein eigenes meteorologisches Büro für Moskau und Umgebung seine Arbeit auf, aber das Rosgidromet gehört zu seinen Mitbegründern und beherbergt das neue Büro unter seinem eigenen Dach.

Und die Prognosen der staatlichen Russischen Meteorologen für das nächste Jahrhundert? Sie werden schon heute von der Alltagserfahrung der Durchschnittsbürger bestätigt: in Russland wird es immer wärmer. Zwischen 1981 und 1997 erlebte das Land die zehn wärmsten Jahre seit Beginn der systematischen Beobachtungen. Doch eben deshalb wird auch das Wetter Politikern und Bürgern noch mehr Kopfzerbrechen bereiten. Mehr und mehr Überschwemmungen sind zu befürchten, das Kaspische Meer wird sich ausdehnen und beim Abtauen des ewigen Eises werden die Städte und die Verkehrswege in den Permafrost- Regionen (60 Prozent des russischen Territoriums) im Sumpf versinken. Mit Sicherheit wird auch die politische Suche nach Sündenböcken für diese unliebsamen Veränderungen weitergehen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen