: Schunkeln mit Karacho
■ Der Teeniestar Adriana Lucia bei den Heimatklängen
Ein Fall von Kinderwahnsinn? Der Altersdurchschnitt von Adriana Lucia und ihrer Band dürfte jedenfalls der niedrigste sein, der je bei den Heimatklängen gemessen wurde: Die Jüngste ist 12, der Älteste gerade 24 Jahre alt. Die Kapelle, die vor das zunächst spärlich versammelte Publikum im Tempodrom tritt, wirkt denn anfangs auch mehr wie die Besetzung einer Mini-Playback-Show als wie eine richtige Band. In Kolumbien ist die 17jährige Adriana Lucia bereits ein Star des Vallenato, einer akkordeonlastigen Volksmusik von der Ostküste des Landes.
Adrett herausgeputzt, die Sängerin im PrinzessiNnenkostüm, die anderen Mädchen mit Rüschenkleidern und die Jungs mit Sombrero, legen sie mit einer Cumbia, dem kolumbianischen Nationalrhythmus, los. Der Akkordeonspieler trägt Zahnspange, und die beiden Backgroundsängerinnen wirken wie Mädchen, die mit ihrer großen Schwester zu Hause vor dem Spiegel ihre ersten Tanzschritte einüben.
Schon nach dem ersten Song schwirren die Mädchen ab und kehren in Jeans wieder, der erste von mindestens fünf Garderobenwechseln. Das hat am Anfang den noch etwas wackligen Charme einer Schulaufführung, doch die Unsicherheit hat sich bald gelegt. Denn Adriana Lucia baut nicht auf den Lolita-Effekt, sondern auf ihre Bühnenpräsenz.
Mit ihrem energischen Auftreten und einer sehr erwachsenen Stimme weiß sie sich durchzusetzen und das vor dem kühlen Wind ins Zelt geflüchtete Publikum warm zu machen. Sie ruft ins Publikum, stemmt die Arme in die Hüfte, fordert Mitklatschen und Armeschwenken, und das bekommt sie auch. Teeniestars wie Blümchen und Konsorten sehen in jeder Hinsicht alt aus gegen Adriana Lucia, an deren professioneller Gestik sich die Fotografen nicht sattknipsen können. Ihre Jungs pumpen derweil die Stimmung mit aufgedrehten Akkordeonmelodien, brummelndem Bass und hochprozentigen Rhythmen.
Wer bei Akkordeon an Schunkelmusik denkt, liegt nicht ganz falsch. Nur dass man bei Adriana Lucia und ihrer Band ziemlich schnell schunkeln muss, um den Takt zu halten. Denn der Vallenato ist eine entfesselte Kirmesmusik mit viel Karacho, die auf Dorf-Fiestas die Stimmung zum Überlaufen bringt. Eine nicht ganz ungefährliche Sache, denn wenn die Begeisterung überhand nimmt, passiert es schon mal, dass sich die Musiker vor Freuden- und anderen Schüssen wegducken müssen. Der Vallenato hat den Stoff, aus dem die Heimatklänge-Legenden gestrickt sind: in diesem Fall Kokain. Gilt er doch als die Lieblingsmusik der kolumbianischen Drogenbarone, und die lassen sich ihre Leidenschaft etwas kosten: Manche überschütten ihre liebsten Vallenato-Interpreten mit Geschenken, andere kaufen sich Radiostationen, um so die Ausstrahlung ihrer Lieblingshits zu sichern.
So viel Einsatz gab es bei Adriana Lucias erstem Berlin-Auftritt noch nicht. Doch am Ende hatte sie es immerhin geschafft, die Sonnenfinsternis als Ereignis der Woche locker in den Schatten zu stellen. Daniel Bax
Heute und morgen ab 21.30 Uhr, Sonntag 16 Uhr im Tempodrom am Ostbahnhof, Friedrichshain
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