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Im neoliberalen Sumpf stecken geblieben

betr.: „Zur Mitte verdammt“, taz vom 20. 8. 99

[...] Christoph Nick sucht zwar eifrig nach der Mitte, ist aber dabei leider im neoliberalen Sumpf stecken geblieben. Ein Satz wie: „Der historische Sieg der Marktwirtschaft über die Planwirtschaft, die wirtschaftliche Prosperität breiter Schichten in marktoffenen Ländern, addiert mit den Erkenntnissen der zeitgenössischen Wirtschaftswissenschaften, lassen als Alternative zu Demokratie und Marktwirtschaft nur noch Diktaturen oder religiöse Fundamentalismen als denkbar erscheinen“ besteht komplett aus Versatzstücken der neoliberalen Glaubenslehre.

1. „Der Sieg der Marktwirtschaft über die Planwirtschaft“ war in Wahrheit weniger „historisch“ als vielmehr banal. Die zentralen Planwirtschaften nach Sowjetmodell waren eben ziemlich ineffektiv. Daraus folgt keineswegs, wie die Neoliberalen ja gern mit solcherart „historischen“ Verweisen suggerieren wollen, dass es ineffektiv sei, Marktwirtschaft planvoll zu gestalten. Wirklich historisch dagegen war die unblutige Entmachtung einer Diktatur. Die Frage ist doch überhaupt nicht „Marktwirtschaft“ oder „Planwirtschaft“, sondern welche Art von Marktwirtschaft wir haben wollen. Schließlich kann auch eine Sklavenhaltergesellschaft marktwirtschaftlich organisiert sein.

2. „Die wirtschaftliche Prosperität breiter Schichten in marktoffenen Ländern“ ist nichts als neoliberaler Aberglauben. Zum einen sind die reichen Länder, also die G-7-Staaten, nicht wirklich „marktoffen“, sondern verfügen über diverse Abschottungsmechanismen. [...] Versuchen sie mal, als „Entwicklungsland“ in der EG Agrarprodukte zu verkaufen. Viel Spaß!

Zum andern kann in den ärmeren „marktoffenen“ Ländern, die sich nach Kräften bemühen, den Auflagen des IWF nachzukommen, von „Prosperität breiter Schichten“ nicht mal ansatzweise die Rede sein. [...] Dabei sind diese Länder so unglaublich „marktoffen“, dass man tatsächlich alles kaufen kann, teilweise sogar die Einzelteile, sprich Organe, ihrer Bewohner. Ob das ein Kennzeichen von Prosperität ist, darf bezweifelt werden.

3. Die sogenannten „Erkenntnisse der zeitgenössischen Wirtschaftswissenschaften“ widerspiegeln doch einfach bestimmte Interessen. Natürlich haben die sogenannten entwickelten Länder ein Interesse daran, Kapital zu exportieren. Schließlich haben sich die Investoren in den sogenanntenTigerstaaten über Jahre dumm und dämlich verdient. Als dann die exorbitanten Wachstumsraten nicht länger aufrechtzuerhalten waren, was logischerweise früher oder später der Fall ist, zogen sie ihr Kapital ab. Irgendeine „Prosperität“ kann auf diese Weise natürlich nie entstehen, stattdessen sind dort jetzt „ethnische“ und „religiöse“ Konflikte am Brodeln. Warum bloß?

4. Keineswegs bilden „Demokratie und Marktwirtschaft“ ein quasi natürliches Bollwerk gegen „Diktaturen oder religiöse Fundamentalismen“. In Wahrheit herrscht gerade bei den Musterschülern des IWF, den ehemaligen Tiger- und zwischenzeitlichen Bettvorlegerstaaten, sowie einigen Staaten Lateinamerikas, entweder „Marktwirtschaft“ ganz ohne Demokratie, oder aber, falls es ab und zu irgend welche mehr oder weniger undurchsichtigen Wahlen gibt, unerwünschte soziale Bewegungen (Gewerkschaften etc.) oder ethnische Gruppen (oft geht es um Landbesitz) werden von Militärs oder Paramilitärs nach Belieben terrorisiert und/oder massakriert. Dies interessiert IWF und globale Kapitalanleger herzlich wenig, denn schließlich sichert „hartes Durchgreifen“ nicht zuletzt auch den Profit eben dieser Kapitalanleger.

Wenn die „Grünen“, in Gestalt von Christoph Nick, heute meinen, sich bei der sogenannten Mitte anbiedern zu sollen, so erklären sie in Wahrheit das Kapitalinteresse zum Interesse der Gesamtgesellschaft. In keinster Weise wird auch nur versucht zu verstehen, wie Kapitalismus funktioniert. Was bedeutet es eigentlich, wenn quasi über Nacht die Arbeit ganzer Kontinente völlig entwertet werden kann, nur weil die global players beschließen, sich zurückzuziehen? Es ist ja gerade das Kennzeichen der neoliberalen Ideologie, dass sie uns Vorgänge, die das Ergebnis einer knallharten Interessenpolitik sind, quasi als Naturereignis verkaufen will. So ist halt der Markt. So ist die Welt. [...]Rainer Wagener, Heidelberg

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