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Zwanzig Minuten ohne Augenlicht

■  Plötzlich ist alles schwarz vor Augen: Die Ausstellung „Dialog im Dunkeln“ von Axel Rudolph im U-Bahnhof Rathaus Steglitz rekonstruiert das tägliche Erleben von Sehbehinderten in der Hauptstadt

Endlich. Das rettende Holzgeländer. Jetzt schön langsam einen Fuß vor den anderen setzen. Aufpassen, dass nicht plötzlich eine Wand auftaucht. Hier ist es so dunkel, dass man einen Gegenstand auch dann noch nicht erkennen kann, wenn er fast schon die Wimpern berührt. Nur Dunkelheit, sonst nichts.

Plötzlich plappert eine Stimme los. Schnell werden es mehr, bald ist nur noch ein einziges Stimmengewirr zu hören. „Zug nach Oranienburg“, ertönt auf einmal wie aus dem Nichts eine Stimme aus dem Lautsprecher. Die Idee, im U-Bahnhof Rathaus Steglitz hinter einer schwarzen Tür eine Erfahrung zu ermöglichen, die für Blinde alltäglich, für Sehende aber einmalig ist, stammt von Axel Rudolph. Zusammen mit den Veranstaltern der Ausstellung „Dialog im Dunkeln“, dem Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenverein Berlin (ABSV) und der BVG hat der Künstler hat eine Welt erschaffen, in der nur Ohren und Hände zählen. „Wir wollten keine andere Welt bauen, sondern sie nur anders darstellen“, sagt er selbst über sein Reich der Dunkelheit. So stolpert der für gewöhnlich sehende Mensch durch alltägliche Orte wie die U-Bahn, den Supermarkt, entlang an einer Baustelle, rein in ein Café, hinaus in ein imaginäres Freibad.

Der Klopfton der Ampel lockt, kein Geländer ist in der Nähe, die Ohren übernehmen die Arbeit. Was, wenn ich einen Passanten anrempele oder in einen Fahrradfahrer hineinlaufe? Und immer wieder die Angst vor einer Treppe, vor Stufen, die man verfehlen könnte – ein falscher Tritt kann den Sturz zur Folge haben. Absolute Konzentration ist nötig. Ein Vor-sich-Hinschlendern, bei dem man seinen Gedanken nachhängt, ist völlig unmöglich. Immer wieder greifen, riechen, lauschen, tasten.

Im Inneren der Box sind alle Wände und die an ihnen angebrachten Mülleimer sauber. Die Erkenntnis, dass der soeben berührte Gegenstand ein Mülleimer war, den man außen, innen, oben und unten abgetastet hat, lässt an die Blinden denken, die auf die versifften Mülleimer in der Berliner U-Bahn stoßen. Immer wieder die Frage: Wie machen die das bloß? Sind Blinde auch die ganze Zeit so angespannt wie Sehende in diesem Raum?

Rund 800 Menschen verlieren in Berlin jedes Jahr ihr Augenlicht. Sie müssen sich auf diese Situation einstellen, lernen, ihre anderen Sinne zu benutzen. Eine neue Bekanntschaft kann nicht mehr nach ihrem Äußeren bewertet, sondern muss anhand von Stimme und Verhalten eingeschätzt werden. Berlin ist eine hektische, eine laute Stadt. Mit der „Black Box“ will der ABSV auf seine Arbeit aufmerksam machen und das Bewusstsein dafür schärfen, wie es ist, sich mit einer Sehbehinderung durch die große Stadt zu bewegen.

Nach der Tour, wieder draußen im U-Bahnhof Rathaus Steglitz, sieht die Welt viel bunter als vorher aus. Die Schritte der Menschen wirken lauter. Russische Musik hallt durch den Tunnel. Nach einem Holzgeländer, an dem man sich entlanghangeln kann, sucht man vergebens.

Susanne Klingner ‚/B‘ Die Ausstellung im U-Bahnhof Rathaus Steglitz ist vom 28. 8. bis zum 17. 10. täglich von 9 bis 20 Uhr geöffnet

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