Einmal an der Macht, folgte alsbald die Wandlung vom Saulus zum Paulus

■ Einst standen Boris Jelzin und seine Tochter für den Kampf gegen Korruption. Heute sind sie ein Symbol für Amtsmissbrauch

„Ich bin kein Funktionär, kein Apparatschik“, sagte der ehemalige Parteichef der Ural-Stadt Jekaterinburg und später erste Parteisekretär Moskaus, Boris Jelzin, 1990. Jelzin war Ende der 80er Jahre angetreten unter dem Banner des Kampfes gegen die Privilegien der Nomenklatura der Kommunistischen Partei der Sowjetunion.

Dieses Ziel, sein Hauptziel, verschaffte ihm die Unterstützung der Massen. Er wütete gegen Lebensmittel-Sonderzuteilungen für Apparatschiki, gegen die „allmächtigen Verwaltungen“, die den Parteiführern „jede Laune erfüllten“, und gegen die Sonderkliniken für Parteibonzen.

Als ich ihn am Tage der Märzwahlen zum Obersten Sowjet im Jahre 1989 zu Hause besuchte, beteuerte er: „Ich besuche die Poliklinik nebenan und fühle mich besser als je zuvor.“ Damals, zur Zeit der tiefsten Demütigung des späteren Präsidenten Jelzin, nachdem er von seinem Rivalen Gorbatschow als Moskauer Parteichef entlassen worden war, stand seine Tochter Tatjana als Aktivistin an der Seite ihres Vaters.

Obwohl schon Mutter eines Sohnes im Teenager-Alter, hatte sie damals noch ein sehr mädchenhaftes Image. Sie empfing wenige ausgewählte Journalisten in der Jelzinschen Wohnung und überraschte durch nüchternes und humorvolles politisches Urteil. Mit ihren schrägen Augen wirkte sie bisweilen wie ein weiblicher Polit-Kobold.

Außerdem fielen die Jelzins durch ihre bescheidene Lebensweise aus dem Rahmen. In ihrem Zuhause gab es nicht den üblichen teuren Nippes, der sonst in den Wohnungen der politisch Herrschenden zu finden war. Und niemandem hätte man geglaubt, dass diese junge Frau namens Tatjana in Russland einmal zum Synonym für eigennützigenMachtmissbrauch und Korruption werden sollte.

Jahre später heiratete die den Geschäftsmann Leonid Djatschenko. Über dessen geschäftliche Aktivitätenwurde zuletzt 1994 bekannt, dass er in Jekaterinburg einem Joint-Venture namens „Interural“ angehörte. Die Firma widmete sich dem Export von seltenen Metallen, Erdölprodukten, Erz und Kupfer. Kurzum: allem, was die russische Opposition als „Verhökerung der Reichtümer der Nation“ bezeichnet.

Patzig antwortete Tatjana Djatschenko, als sie kürzlich nach ihrem Mann gefragt wurde: „Er beschäftigt sich mit Holzverarbeitung. Von seinem Geschäft verstehe ich nichts“. Ihr ist es offensichtlich peinlich, dass sich die Lebensführung des engeren Jelzin-Clans inzwischen weit von dem puritanischen Ideal entfernt hat, das ihr Vater noch in Jekaterinburg predigte. In ihrer zweiten Ehe bekam Tatjana Djatschenko noch einen weiteren Sohn.

Heute gilt diese Frau als Schlüsselfigur einer schmutzig verfilzten Interessensgemeinschaft, die ihre eigenen materiellen Interessen mit einem weltweiten Fimen- und Banken-Imperien verbindet.

In Russland ist es immer so gewesen, dass die Macht direkten Zugang zum Wohlstand garantierte. Dies sagte kürzlich Grigori Jawlinski, Chef der liberalen Partei Jabloko. Und auf die Frage, ob er einmal mit Jelzin darüber gesprochen habe, antwortete er: „Der meint, das liegt in der Natur aller Dinge.“ Barbara Kerneck