Das Biedenkopf-Prinzip

Die Beliebtheit des sächsischen CDU-Ministerpräsidenten Biedenkopf hat System. Morgen ist Wahl    ■ Aus Dresden Nick Reimer

Soviel steht fest: Der Sieger der Landtagswahl an diesem Sonntag in Sachsen heißt Kurt Biedenkopf, CDU. Geklärt werden muss lediglich noch die Frage, wie deutlich seine neue, alte absolute Mehrheit ausfällt. Letzte Umfragen sehen die Biedenkopf-Partei bei 57 Prozent. Eine täuschende Zahl: Könnten die Sachsen ihren Ministerpräsidenten direkt wählen, wären Biedenkopf über 70 Prozent der Stimmen gewiss.

Diese Beliebtheit ist kein Zufall. Sachsens Regierungschef hat ein System, das Biedenkopf-Prinzip. Regel Nummer eins: Sei stets Denker, sei stets Lenker! Meide aber tunlichst die Niederungen der lokalen Tagespolitik.

Biedenkopf ist ein brillianter Ideenproduzent und scharfsinniger Analytiker. Wo andere das Problem noch zu durchdringen versuchen, denkt der Wirtschaftsprofessor bereits über Lösungen nach. „Ideenmaschine“ haben sie ihn genannt. Biedenkopf ist einer, der anschiebt, auf den Weg bringt. Die Neigung, sich dann unbedingt um alles selbst kümmern zu müssen, ist ihm abhold. Dafür hat er seine Leute.

Der Effekt ist, dass Rückschläge der aktuellen Landespolitik nie auf ihn fielen. Egal, ob horrende Kommunalabgaben, umstrittene Gemeindegebietsreform, skandalöser Verfassungsschutzbericht oder Querelen um Deutschlands schärfstes Polizeigesetz – verantwortlich war stets die CDU, nicht Biedenkopf.

Nur einmal mischte er sich ein und fiel prompt auf die Nase. Sein Versprechen, die Abwassergebühren sozial gerecht zu begrenzen, war nicht zu halten. Prompt rief ihm die aufgebrachte Menge „Lügenkopf, Lügenkopf“ zu – eine seltene Ausnahme.

Regel Nummer zwei des Biedenkopf-Prinzips: Sei querulant! Wann immer sich Biedenkopf zum Zustand der Bundes-CDU, zum Rentenproblem, zur ARD, zur sozialen Marktwirtschaft äußert, seine Haltung ist selten konform zur christdemokratischen Gesamtlinie. Das gefällt den Sachsen: Unser Ministerpräsident haut auf den Tisch. Irgendwie fällt das ja auch auf uns zurück. Biedenkopf hat den Sachsen ihr Selbstbewusstsein zurückgegeben. Geschickt setzt er regionales Traditionsbewusstsein gegen die dramatische Dynamik, mit der sich das Leben im Neufünfland ändern musste.

Regel Nummer drei: Gib dich volksnah. Bleibe dabei aber ehrlich! Als die Werbestrategen den im Juli angesetzten CDU-Landesparteitag in Leipzigs Messehallen planten, ließen sie sich vom Auftritt Schröders inspirieren, der hier einst zum Kanzlerkandidaten gekürt worden war. Höhepunkt des CDU-Parteitags also: Einzug des Ministerpräsidenten in Begleitung vier junger Mädchen zu den Klängen des alten Tina-Turner-Hits „The Best“. Einen Tag vor Parteitagsbeginn strich Biedenkopf den Einmarschplan: „Das mache ich nicht mit.“

Kurt Biedenkopf ist kein Mann der Selbstinszenierung. Natürlich will er glänzen. Aber doch nicht durch Posen! Show-Auftritte – etwa wie das Wetten-Kanzler-Schröder-dass-Event – kämen Biedenkopf nie in den Sinn. Das ist gegen seinPrinzip: Mediales zur Schau stellen verabscheut Biedenkopf.

Er sitzt lieber unten, beim Volk. Die Sachsen sollen ihren Regierungschef anfassen können.

Regel Nummer vier: Von Kohl lernen, heißt siegen lernen. Es begann als wunderbare Männerfreundschaft. 1973 machte der große Helmut den kleinen Kurt zum Generalsekretär der CDU. Weil der aber mehr General als Sekretär sein wollte, schickte Helmut Kurt in die Wüste. Dann fiel die Mauer. Kurt war schon da, als Helmut in den Osten kam. Der eine sprach von blühenden Landschaften. Der andere davon, dass er nichts versprechen könne, „außer dass ich und meine Frau mit unserem ganzen Wissen und Können für Sachsens Wiederaufstieg arbeiten“. Minus 15 Prozent: Als Kohls blühende Landschaften auch im Jahre neun nach Prophezeiung nicht in Sicht waren, schickten ihn die Sachsen in die Wüste.

Regel Nummer fünf: Regiere autokratisch.

Sicherlich ist es nicht Biedenkopfs Führungsstil gewesen, der die Lokalpresse veranlasste, ihn als „König Kurt“ zu betiteln. Hätte er aber sein können: Biedenkopf hat seine Mannschaft fest im Griff. Nie wird der Regierungschef innerhalb der CDU in Frage gestellt. Einige wenige Abgeordnete maulen zwar über Personenkult. Da aber nur leise, hinter vorgehaltener Hand. Biedenkopf ist der starke Mann, den sich die königsverliebten Sachsen wünschen.

Regel Nummer sechs: Sei Landesvater!

Ganz gleich, ob im EU-Subventionsstreit wegen VW oder beim Stimmverhalten im Bundesrat: Biedenkopf denkt immer zuerst an Sachsen. Parteiräson oder Deutschlands Beziehungen zu Europa interessieren ihn da herzlich wenig. Addiert man dazu seinen Habitus, ergibt das den Prototyp eines Landesvaters.

Sicher ist, bis 2004 regiert in Sachsen weiterhin das Biedenkopf-Prinzip – getreu der Regeln Nummer eins bis sechs. Man darf sich auf so manchen Geistesblitz, auf so manche Querulanz freuen. Dann aber, das hat der 69-Jährige überdeutlich klar gemacht, ist Schluss. Ein für allemal. Und schon heute ist der CDU bang: Ihr fehlt ein neuer Regelnschreiber.