: Sein und Zeit
■ Die Großen Deutschen (2): Carmen Nebel – Leben für und Liebe zur Musik
Das Jahr-2000-Problem ist entdeckt: Es ist eine Ansagerin aus dem fernen Osten. Eine lebensechte Föhnmähne, deren Wahrhaftigkeit spielerisch mit der verhohlen unnaturblonden Haarfarbe im Clinch liegt. Mähnen lügen nicht, und ebenso wenig Carmen Nebel, wenn sie sagt: „Guten Abend, meine Damen und Herren.“ Dies, so sie, sei auch wieder wahr.
Warum sie sich das Beenl-Anagramm zum Pseudonachnym nahm, weiß die Bizetsche Confératrice selbst nicht so genau, wurde sie unter dieser Bürde doch bereits geboren. Zuviel ist in ihrem und, wie sie sagt, sei auch im Beenl aller ungewiss. Es fehlt an Gewissheiten, aber nicht speziell an jener, Frau Nebel in der Fernsehwoche zu begegnen. Nein, dies ist ganz und gar nicht ungewiss. Zielgruppenfernsehen direkt nach den Hauptnachrichten trifft gelegentlich auch Unschuldige. Wo andere auf „Quotenjagd“ gehen, macht die kaltherzige KGB-Agentin keine Gefangenen. Sie ist eine Rattenfängerin, die in modularer Rezeptur Heiländer Käse in der Braunschen Schnappfalle drapiert; ein unbegreiflicher, nicht greifbarer weißer Schleier über den Dingen, der so manchen schon die Kurve zu spät hat sehen lassen, das ist Nebel. Ihr künstlerisches Credo ist einfach, dafür aber umso einprägsamer: „Genaue Gründe für diese ansteckende Raserei zu geben, wäre unnütz. Ebensogut könnte man Gründe dafür suchen, warum der nervliche Organismus nach einer gewissen Zeit sich die feinsten musikalischen Schwingungen zu Eigen macht, bis er durch sie eine Art von dauerhafter Veränderung erfährt. Wichtig vor allem ist das Zugeständnis, dass das theatralische Spiel wie die Pest eine Raserei ist und dass es ansteckend wirkt.“
Man merkt: Ohne Zäsuren ist ihre Karriere nicht verlaufen. Doch sei sie bei der Arbeit immer von der Zäsur verschont geblieben. Für ihre Lehrjahre als Ansagerin beim Deutschen Fernsehfunk wurde sie 1989 von den Zuschauern zum „Fernsehliebling der DDR“ „gewählt“. Dies zeigt, wie Systeme im System das System überbieten bzw. durchwandern. Und ohne pazifistische Grundsätze kommt man auch in der Volksmusik nicht mehr aus. „Wir in der Brangsch sind alle sehr lieb zueinander. Denken Sie an die großen Liebespaare der Volksmusik, aber stellen Sie sich vor, es gäbe sonst überhaupt kein Fernsehen. Oder seien Sie hundemüde und glauben Sie, in Wirklichkeit einen anderen Sender zu sehen. Oder machen Sie während der Sendung doch irgendetwas anderes.“
Gerüchte, die Nebel habe Drohbriefe in der Handschrift des Genre-Moguls Beierlein erhalten, entpuppten sich schnell als unhaltbare Räuberpistole. Nebels Mission führt darüber hinaus. Sie ist immer präsent und weiß, was eine Überleitung ist: das ganze Leben zu einem Traum zu machen, die Musik wie ein Starthilfekabel in sehnende Herzen zu leiten, die Steadicam der barbituratverwöhnten Zuhörer mit hypnotischer Energie zu schwenken und immer darauf zu vertrauen, dass Hans-Peter den Applausregler gut aufdreht.
Und wenn das nicht passiert, drehen ganz andere den Wahrheitsregler auf volle Pulle. Ein schwarzgalliger Roland Kaiser schmetterte in schütteren Versen auf dem „Sommerfest der Volksmusik“: „Ich bin allein und möchte schrein / Selbstgespräche, die gedeihn / weil ich höllisch leide / Ausgebrannt und leer / Risse im Gemüt / das ist was ich fühl / jämmerlich und klein / so empfinde ich das Sein / fast schutzlos wie ein Kind / Illusionen sind nur Schein“.
Da hält es auch keine Nebel mehr auf der Ersatzbank. Auf Versprecher-Kursus direkt ins Mark der Gedanken: „Und zwar begrüßen wir einen jungen Sänger, der träumt von einer eiskalten, äh, von einer heißen Liebe.“ Und natürlich: „Gewinnen können Sie, wenn Sie uns bis zur nächsten Sendung unsere, äh, Ihre Wünsche schreiben.“ Daniel Hermsdorf
Benjamin Heßler
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