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Lissabon und das System kommunizierender Presslufthämmer    ■ Von Joachim Frisch

„Das Flair einer pulsierenden Stadt“ versprach das Reisebüro. Ich wählte das Sonderangebot „Entdecken Sie das historische Lissabon in einem traditionellen Hotel“, freute mich auf eine erholsame Woche in einer gediegenen Residenz und den dezenten Duft des Bohnerwachses im Jugendstiltreppenhaus. Der Reisebüromann versicherte mir, der berüchtigte Baulärm gehöre der Vergangenheit an, denn zur Expo 98 sei alles gebaut worden, was zu bauen war. Jetzt herrsche Ruhe. Das klang plausibel.

Verschwiegen hat er mir, dass außer mir auch die etwa 1.000 Baufirmen, die zur Expo gegründet wurden, das historische Lissabon entdeckt haben, weil ihr Auftrag in der modernen Vorstadt erledigt ist. Mit Baggern, Kränen und Presslufthämmern entkernen sie jetzt historische Gebäude im Zentrum, indem sie das Mauerwerk hinter den Fassaden mit Hilfe gepresster Luft in Staub verwandeln, der dann in Schwaden durch das historische Lissabon zieht.

Weil sie für die Expo gebaut haben, erheben die Baufirmen einen künstlerischen Anspruch. Deshalb lärmen sie nicht wahllos, sondern avantgardistisch. Große Performancekunst, der documenta würdig, ist das System der kommunizierenden Presslufthämmer. Diese sind so in den engen Straßen und Gassen des Chiado und des Bairro Alto platziert, dass man in beiden Vierteln keine Ecke mehr ohne ihr Klirren, Scheppern und Dröhnen findet. Die tiefen Straßenschluchten wirken als akustische Röhren vibrationsverdoppelnd und phonvervielfachend, es entsteht ein Dolby-Surround-Effekt wie im CinemaxX-Kino, nur dass der Lärm bei der Explosion eines Planeten in „Star Wars“ gegen die kommunizierenden Presslufthämmer allenfalls wie der Aufprall einer Pellkartoffel auf dem Küchenfußboden klingt.

Als ich am ersten Abend mit diesen Eindrücken und dem Geruch von frischem Bohnerwachs in der Nase müde ins Bett sank, hielt ich es nicht für möglich, dass eine menschliche Stimme sich gegen den Lärm der kommunizierenden Presslufthämmer durchsetzen könnte. Am nächsten Morgen um halb sieben belehrte mich ein Losverkäufer unter dem Hotelfenster eines Besseren. Ehe er sich um 12 eine fünfminütige Mittagspause gönnte, brüllte er mit monotoner Stimme etwa 3.000-mal die gleichen drei Worte, unterbrochen nur von vier kräftigen Herren, die um viertel vor sieben damit begannen, mit Eisenbeschlägen verstärkte Paletten von einem Lkw abzuladen, dessen Dieselmotor ununterbrochen knatterte. Sicher hätten auch zwei kräftige Herren die Paletten abladen können, doch sie hätten es nicht geschafft, sie jedes Mal auf der Lkw-Pritsche über ihre Köpfe zu stemmen, um sie dann aus etwa drei Metern auf den Gehweg krachen zu lassen. Der Sinn dieser Aktion bestand wahrscheinlich darin, im Verein mit dem Losverkäufer und dem Dolby-Surround-Pressluft-Sound das Flair der pulsierenden Großstadt in konkurrenzlose Dimensionen zu heben.

Am sechsten Tag hatte ich mich an das Flair gewöhnt. Die Presslufthämmer klangen wie Gummihämmer, der Losverkäufer flüsterte, und die Paletten schienen mit Styropor verkleidet. Inzwischen kann ich mein Hörgerät bei Heavy-Metal-Konzerten schon wieder auf halbe Kraft zurückschalten.

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