Die kritische Masse im Kessel ist erreicht

■ Wie ein Arbeiter die Neutronenlawine in der Uranfabrik lostritt

Die bei dem Unfall verstrahlten Arbeiter sprachen davon, dass sie einen blauen Blitz gesehen hätten. Unklar ist aber noch, ob es zu einer, wenn auch kleinen Explosion gekommen ist, wie der Nachrichtensender BBC berichtete. Dort hieß es Dienstag abend noch, dass eine Explosion ein kleines Loch in das Gebäudedach gerissen hätte, durch die dann radioaktives Material in die Umgebung gelangen konnte.

In dem vorläufigen Bericht des Bonner Umweltministeriums heißt es zu dem Vorfall: „Bei der Handhabung von Uran zur Brennelemente-Herstellung ereignete sich ein so genannter Kritikalitätsstörfall.“ Die Arbeiter hätten in einem wassergekühlten Behälter zu viel hochangereichertes Uran 235 eingefüllt. Anstatt wie vorgeschrieben nur maximal 2,3 Kilogramm hätten sie 16 Kilogramm der uranhaltigen Lösung abgefüllt. Damit wurde die so genannte kritische Masse überschritten. Die Folge: Bei der dann ausgelösten unkontrollierten Kettenreaktion sei es zu einer starken Freisetzung von Gamma- und Neutronenstrahlen gekommen.

Uranatome zerfallen auf natürliche Weise – wenn auch sehr langsam. Dabei entstehen energiereiche Neutronenteilchen. Treffen die Neutronen dann auf andere spaltbare Atome, können sie dort ebenfalls eine Kernspaltung auslösen. Neue Neutronen werden emittiert, die wiederum weitere Reaktionen auslösen können. Es droht eine Lawine. Einige der ausgeschleuderten Teilchen gehen allerdings immer verloren. Eine Kettenreaktion kann daher nur dann einsetzen, wenn mindestens eben so viele Neutronen entstehen wie verloren gehen – die Uranatome müssen also eine bestimmte Konzentration in der Brühe überschreiten, damit die Neutronen nicht einfach zwischen ihnen durchsausen. Ist dieser Zustand erreicht, sprechen die Atomforscher von einem kritischen System.

In Atomkraftwerken wird die Kettenreaktion durch einen so genannte Moderator, zum Beispiel Schweres Wasser, unter Kontrolle gehalten. Dieser Stoff fängt einen Teil der energiereichen Neutronen ab, so dass die Kettenreaktion nicht zu heftig wird. Bei dem Unfall in Japan wurde jedoch nicht nur die kritische Masse um ein Vielfaches überschritten, es fehlte auch der Moderator, mit dem die Kettenreaktion eingedämmt werden konnte.

Der Unfall habe sich offenbar bei Pilotversuchen und Forschungsarbeiten ereignet, heißt es bei der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) in Wien. Dabei sei das Uran 235 nicht wie üblich automatisch abgefüllt worden, sondern die Arbeiter hätten diese Tätigkeit per Hand gemacht. Für die Atombehörde ist damit klar: Der Unfall ist auf menschliches Versagen zurückzuführen.

Das meint auch Joachim Hoffmann, Sprecher des Forschungszentrums Karlsruhe. „In den bestehenden Produktionsanlagen kann das nicht passieren“, so Hoffmann, „da sind Sicherheitsbarrieren eingebaut, die verhindern, das in einem Behälter die kritische Masse erreicht wird.“

Wie die Reaktion in Tokaimura gestoppt wurde, ist noch unklar. Möglicherweise war nach einem knappen Tag so viel vom Uran in dem Kessel gespalten, dass die Konzentration nicht mehr ausreichte für die Neutronenlawine. Wolfgang Löhr