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Den 3. Oktober in der Gepäckablage

Zum Tag der Deutschen Einheit fuhr ein „Zug der Einheit“ mit etwa 200 Lokalhonoratioren von Dresden nach Wiesbaden. Im allerletzten Wagen saß das Volk – drei Rentner aus Görlitz  ■   Von Barbara Bollwahn de Paez Casanova

Unter der elektronischen Anzeige im Dresdner Hauptbahnhof weist eine kleine schwarze Tafel die „liebenden Reisenden“ darauf hin, dass der „Zug der Einheit“ von Gleis 13 abfährt. Kein weiterer Hinweis darauf, dass hier, wo am 3. Oktober 1989 DDR-Bürger die Gleise blockierten, um in die Züge zu gelangen, die Prager Botschaftsflüchtlinge in den Westen brachten, eine Reise in die Vergangenheit starten soll.

Eigentlich ist es auch nicht nötig. Die Fahrgäste haben schon seit Wochen reserviert. Zufällig verirrt sich an diesem Samstag kaum einer auf Bahnsteig 13, wo sich die Bahnindustrie des geschichtsträchtigen Datums bedient: Zur Präsentation des neuesten „ICE-T“ mit Neigetechnik hat das Herstellerkonsortium Bombardier, Siemens und Fiat etwa 200 Kommunalpolitiker plus Gefolge aus der Lausitz, Sachsen und Thüringen zu Riesengarnelen und Schweinelendchen geladen. Es spielt selbstverständlich keine Rolle, dass der Zug derzeit nur zwischen Stuttgart und Zürich verkehrt. In Görlitz haben Bombardier und Siemens Produktionsstätten. Und Görlitz ist die Partnerstadt von Wiesbaden, wo die offiziellen Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit stattfinden. Das reicht allemal für das „Zusammenwachsen im geeinten Deutschland“. So ist das mit den Erinnerungen – jeder kann damit machen, was er will.

Die beiden Männer vom Sicherheitspersonal der Bahn, die an Gleis 13 Aufstellung genommen haben, scheinen wenig Gefallen daran zu finden. Während die Auserwählten mit kleinem Handgepäck, dem Sticker „Die Lausitz rollt an“ am Revers und einem Lächeln auf den Lippen langsam eintrudeln, gucken sie todernst. Man sieht, dass sie etwas zu sagen haben zum Tag der Deutschen Einheit. Doch die beiden Sachsen wollen nicht. „Ich enthalte mich der Stimme“, sagt der eine und verweist an seinen Kollegen. Doch auch der winkt müde ab. „Es würde nichts Gutes dabei rauskommen.“

Nicht ganz so düster ist die Stimmung im Cockpit. Doch eine besondere Bedeutung hat der 3. Oktober auch für den Zugführer Hans-Joachim Oeppert nicht. Der 39-jährige Sachse macht seinen Job an diesem Tag wie an jedem anderen. Hauptsache, er hat Arbeit. „Man muss sich auf die neue Zeit einstellen“, sagt er kurz angebunden. Der Mann hinter ihm bekommt spitze Ohren. Franz Rieger, ein 48-jähriger Bayer, der als Kontrolleur darauf achtet, dass der Fahrer nicht abgelenkt wird, widerspricht: „Ich verspüre schon eine gewisse Genugtuung, dass letztendlich der Kommunismus den Kürzeren gezogen hat“, sagt er.

„Liebling, was wird nun aus uns beiden“, singen sie

Das kann Zugführer Oeppert nicht auf sich sitzen lassen. „Dem würde ich nicht sofort zustimmen“, sagt er. „Das alte System hatte gravierende Mängel, aber auch Vorteile.“ Einige Sachen hätte man ruhig übernehmen können. „Ich verstehe das durchaus“, erwidert Rieger. Doch es könne nicht sein, dass „der Mittelstand in den alten Bundesländern immer dünner wird“. Das deutsch-deutsche Gespräch endet, als sich der Zug um 10.08 Uhr mit acht Minuten Verspätung in Bewegung setzt. In der Gepäckablage den 3. Oktober 1989.

Mit an Bord sind ein Sänger und eine Sängerin vom Görlitzer Theater. Sie wurden samt Pianist für den „Musiksalon“ engagiert und haben sich für schwerblütige Ufa-Schlager entschieden, weil die Dinger immer klappen. „Wir sind Überzeugungstäter“, gesteht Ulf Paulsen, der 34-jährige Bassbariton aus Niedersachsen, der derzeit an der Prager Staatsoper und am Theater in Görlitz singt. Auch für ihn ist die Zugfahrt ein Job wie jeder andere. „Man stellt sich hin, wird verramscht und kriegt dafür ein Schmerzensgeld.“ Die 33-jährige Sopranistin Yvonne Reich, eine gebürtige Lausitzerin, meint, dass alles schon irgendwo zusammengewachsen ist. „Ich mache das nicht mehr an einem Datum fest.“ Auf der Suche nach den passenden Liedern stoßen sie auf Titel wie „Das gibt's nur einmal“ und „Liebling, was wird nun aus uns beiden“. Als ihnen die Doppeldeutigkeit auffällt, müssen sie lachen.

Um die Kaffee, Wein und Sekt trinkenden Kommunalpolitiker und Wirtschaftsdelegationen daran zu erinnern, auf was für einen Zug die Bahn aufspringt, verliert Staatssekretär Siegfried Scheffler vom Verkehrsministerium wenigstens einige Sätze über den 3. Oktober 1989. „Der heutige Tag ist ein Fest“, sagt er über das Bordmikrofon. „Vor zehn Jahren rollte der Zug mit Ausreisewilligen aus der Prager Botschaft. Man darf das nochmal Revue passieren lassen.“ Und schon ist er bei der Bahn. „Der Intercity mit Neigetechnik zeigt auch, was erreicht wurde in den letzten zehn Jahren.“ Er verabschiedet sich mit den Worten „Ich wünsche uns allen eine gute Fahrt und interessante Gespräche.“

Doch die finden nur zwischen Leuten statt, die sich ohnehin kennen. Im letzten Waggon, dort wo das Mitropa-Personal nicht ganz so häufig zum Nachschenken durchkommt, bleibt das Volk unter sich. Dort sitzen die einzigen drei Fahrgäste, die für ihr Ticket bezahlt haben. Es ist das Ehepaar Rita und Rudi Heß und Adolf Geduhn. Die Männer, beide Rentner, sind alte Waggonbauer aus Görlitz. Die 250 Mark für Hin- und Rückfahrt haben sie ausgegeben, um die Neuerungen mit eigenen Augen und der Videokamera zu inspizieren. Die „tollen Abfallbehälter am Tisch“, die mit Holz verkleideten Wände, die Ganzkörperspiegel auf den Toiletten – all das tröstet sie hinweg über eine Sache, die sie stört am Einheitszug. „Bei Sonderzügen müssten alle gleich sein, doch hier sitzt hinten der Pöbel“, bemerkt Rita Heß.

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