■ Normalzeit: Reintegrationsmaßnahmen
Von Helmut Höge
Um wieder hier reinzukommen, stürzte ich mich in alle möglichen Veranstaltungen. Es begann mit der KPD/RZ-Gala im SO 36 – ein einst vom Kölnkünstler Kippenberger eingerichteter Installationsraum, der dann auf ABM-Basis zum Kreuzberger Hauptdesozialisierungs-Treff für Rheinländer geriet. Die Kiezpartei KPD/RZ begann als humorige Kolumnistenfraktion der Autonomen namens „MuZ“ (Menschenverachtend und Zynisch). Daneben betrieb man noch eine T-Shirterei. Berühmt wurde Mao Meyers Spruch „Alles Fotzen außer Mutti“, den er sich später – abgekürzt – auf den Oberarm tätowierte. Nun saß er an der SO-36-Kasse mit einem T-Shirt, auf dem „To old to die young“ stand. Von den einst „MuZ“-mäßig als Eidechsen abgetanen Radikalfeministinnen sahen viele jetzt – mit großen grünen Tattoos – noch echsenhafter aus, aber die 2- bis 3.000 Mark teuren Stickereien auf ihrer Haut stammten vom KPD/RZ-Vorsitzenden Hans Durst, der sich vom Drucker und Sprayer zum Tätowierer weiterentwickelte. Insbesondere die kostenlos gepunktete üppige Schulter der KPD/RZ-Bürgermeisterkandidatin Nanette hätte man durchaus als sein Meisterstück bezeichnen können. Interessant war auch, wie viele Punker (mit und ohne Irokesenschnitt) noch immer im Problembezirk herumpoltern – und selbstredend KPD/RZ wählen. Es hätte mich nicht gewundert, wenn auch der tote Kippenberger plötzlich zu den beinharten Klängen von „Bonnies Ranch“, „Acapulca Gold“, den „Cellulitas“ und „Jakutin“ mitgerempelt hätte. Aber ich steh mehr auf gepflegtes Engtanzen mit Konversation und Kopulationsversprechen.
Weiter ging es am nächsten Tag in der Kreuzberger Anthroposophenschule – mit dem taz-Genossenschaftsfest, wo das Nord-„Projekt“ wie immer argumentativ versuchte, weitere Geldsummen aus reichen süddeutschen Nichtrauchern rauszuleiern. Hier überwogen – mindestens vor der Tür – die weiblichen Handy-Telefonierer mit halblangen Hinter-dem-Ohr-Frisuren. Mit einer langhaarigen Redakteurin der Zeitschrift Weibblick (Anette) besuchte ich anschließend noch die schwullesbische Türken-Disco „Gayhane“. Und das war nun wirklich eine Szene, in der ich mich wie zu Hause fühlte. Fast hätte ich vor Begeisterung die heterosexuelle Ostjournalistin molestiert. Quasi zur Ausnüchterung steuerte ich später die Eck-Snackkneipe „Linie 1“ an, wo ich mit fünf Kenianerinnen ins Gespräch kam. Sie hatten jedoch alle derartig große Brüste, dass ich verwirrt immer wieder den Faden verlor. Eine, Rita, gab mir deswegen ihre Handynummer. Leider war sie falsch.
Am nächsten Tag stand „Sloterdijk“ auf dem Programm – in der Volksbühne. Ich hätte es wissen müssen: Alles dummes Philosophenzeug à la „Die Ungewissheit des Todes – das ist die Freiheit“ und „Wir sind in einzigartiger Weise zur Singularität aufgefordert“. Die übliche abendländische Würdenummer. Nun kam ich jedoch gerade aus Bombay und dort – im Straßenverkehr – kann wirklich jeder im absoluten Gegensatz zu Europa seine Würde bewahren. Selbst noch die letzte dumme Kuh, die deswegen auch als Inkarnationsziel durchaus Attraktivität besitzt – jedenfalls für mich. Während man hier aktiv das Gesetz befolgt, handeln sie dort interpretatorisch: Die Intelligenz steckt hier in den Siemens-Ampeln, der StVO, der KFZ-Hightech etc. und die Ãsthetik in den Pollern – das macht die Verkehrsteilnehmer dumm und dumpf, wohingegen sie dort immer schöner und klüger werden. Anschließend fand im Schokoladen eine Leseabend auf der „Reformbühne“ statt. Es war knackevoll und Arne, Wladimir Kaminer und Bov Bjerg begeisterten die erfrischend unattraktiven Studentenmassen – mich ebenso.
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