■ Der Ladenschluss soll weiter liberalisiert werden: Ums Kaufen geht es nicht
Manchmal muss eine so genannte politische Diskussion erst hochbranden, um zu erkennen, dass es sich um einen Mythos handelt. Ein Mythos ist – nein, nicht der Ladenschluss, sondern – das Kaufen. Beim Kaufen geht es gar nicht ums Kaufen und bei der Liberalisierung des Ladenschlusses nicht darum, dass junge berufstätige Singles abends um halb zehn noch ihren halben Liter Biomilch erwerben. Es geht auch nicht darum, dass sich irgendwer auch nur eine CD mehr zulegt, weil das Kulturkaufhaus bis 22 Uhr geöffnet hat. Und am allerwenigsten geht es um die berufstätige, allein erziehende Mutter, die abends um acht noch im Drogeriemarkt Windeln kauft. Diese allein erziehende Mutter gibt es nicht, oder im Zweifelsfall ist sie Verkäuferin.
Beim Kaufen geht es nicht ums Kaufen, nicht um Wirtschaft und Vernunft, sondern um Kultur und Gefühl. Das will nur keiner offen ansprechen, es ist peinlich zuzugeben, dass es so weit gekommen ist: Ohne Kaufen keine Öffentlichkeit, kein soziales Leben, keine Ansprache. Stattdessen wird eine pseudo-ökonomische Ladenschlussdiskussion immer wieder mit Zahlen angereichert, so als wäre damit die Sachlichkeit der Debatte erwiesen. Die Erweiterung der Ladenöffnung sei von den Verbrauchern angenommen worden, heißt es in dem neuen Gutachten des ifo-Instituts. 45 Prozent der Verbraucher plädierten für die Abschaffung der gesetzlichen Ladenschlusszeiten zumindest von Montag bis Samstag. Na so was! Eine solche Befragung ist ungefähr so erhellend, als würde man ein paar Jugendliche in Chang Mai fragen, ob man vor Ort einen Diesel-Jeans-Shop aufmachen soll.
„Mehr als die Hälfte der Verbraucher berichten über wesentliche Erleichterungen für die Gestaltung ihrer Freizeit“, heißt es in dem Gutachten. Eine feine Doppeldeutigkeit: Ist die Freizeitgestaltung erleichtert, weil der Leistungsträger dieser Gesellschaft den Braeburn-Apfel oder den linksdrehenden Jogurt auch nach Büroschluss erstehen kann? Oder ist die Freizeitgestaltung deswegen schöner, weil es nett ist, am Abend durch eine Glitzerwelt zu schlendern und ein Etuikleid mal probeweise anzuziehen? Auch wenn die Verkäuferinnen uns insgeheim zum Teufel wünschen, immerhin hieß der frühere lange Donnerstagabend „Schlado“: scheißlanger Donnerstag.
Kaufen ist der einzige Akt, der einen Kontakt mit Menschen und mit uns selbst garantiert: Wenn niemand mit uns reden will, niemand zu uns freundlich ist, wenigstens eine muss es sein: die Verkäuferin. Auch wenn sie uns hasst. Die Frage am Wurststand „Darf es etwas mehr sein?“ und in der Boutique „Längsgestreift haben Sie doch nicht nötig, bei der Figur!“ sind sichere Garanten menschlicher Zuwendung. Vielleicht ist das auch die ganze Wahrheit hinter dem Gerede über die deutsche Dienstleistungsgesellschaft. Dann wäre nicht die Wirtschaft wichtig, sondern die Sehnsucht nach einer Öffentlichkeit, die jedem ein Quantum an Ansprache sichert. Dass das verlogen, geheuchelt, gar erzwungen ist, wird „in Kauf“ genommen.
Rentnerinnen, die sich sonnabends in die Schlange stellen, um ihr halbfrisches Weißbrot zu erstehen, sind der beste Beweis für die These: Sie kaufen bewusst dann ein, wenn es am vollsten ist „Die wollen sich reiben, was erleben“, sagt ein Einzelhandelssprecher. Wer berufstätig ist, vielleicht noch Single, will wenigstens am Abend sein Quantum an gemieteter Freundlichkeit und Glamour abbekommen. „Jüngere, berufstätige Verbraucher“ nutzten vor allem die verlängerten Öffnungszeiten, heißt es in der ifo-Studie. Auch Paare, die am Abend noch stundenlang durch Einrichtungshäuser schlendern, um die Sitzgruppe im Landhausstil zu begutachten, umgehen damit ein Problem: Was reden wir heute Abend miteinander?
In US-amerikanischen Städten sind die Malls, die überdachten Einkaufsstraßen, abends und sonntags längst zum sozialen Treffpunkt geworden. Man verabredet sich in deren Cafés, schlendert durchs Kaufhaus. Niemand muss allein sein. Die ifo-Gutachter plädieren dafür, jetzt in Deutschland wenigstens am Adventssonntag die Kaufhäuser zu öffnen. Weihnachten kann traurig machen. Vielleicht ist der erweiterte Ladenschluss nur das zeitgemäße Mittel gegen Leere und Einsamkeit. Barbara Dribbusch
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