: EU überzeugt: Das Boot ist voll
Die EU-Staaten verhandeln zur Zeit über ein einheitliches Asylrecht. Dabei wird man sich wohl auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen ■ Aus Brüssel Daniela Weingärtner
Die Liste der Tagesordnungspunkte liest sich klangvoll: Europäische Grundrechtscharta, Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Wenn die europäischen Staats- und Regierungschefs heute im finnischen Tampere zusammensitzen, wird es dennoch vor allem um eines gehen: um den Ausbau der Festung Europa.
Vor fünfzehn Jahren einigten sich die Beneluxländer sowie Deutschland und Frankreich in Schengen auf den schrittweisen Abbau der innereuropäischen Grenzkontrollen und den gemeinsamen Schutz der Außengrenzen. Seit der Amsterdamer Vertrag am 1. Mai in Kraft getreten ist, gilt das Abkommen für die ganze EU.
Asylanträge müssen in dem Land behandelt werden, in dem ein Flüchtling erstmals „Schengener Boden“ berührt. Die Asylverfahren und die Lebensbedingungen für Flüchtlinge, die darauf warten, dass ihr Antrag entschieden wird, sind aber nach wie vor in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich. Da Schlepperorganisationen Serviceunternehmen sind, die von ihrem Ruf und ihrer Erfolgsquote leben, spricht es sich in den Herkunftsländern schnell herum, wo man die größten Chancen hat und in der Wartezeit erträglich unterkommen kann.
Derzeit zum Beispiel in Belgien: Weil im vergangenen Jahr eine Nigerianerin bei der Abschiebung starb, wurden die sogenannten Repatriierungen eine zeitlang ausgesetzt. Die Zahl der Asylanträge stieg sofort sprunghaft an. Von 11.787 im Jahr 1997 auf 21.964 im Jahr 1998. Allein im August dieses Jahres stellten 4.350 Flüchtlinge einen Antrag auf Asyl.
Solche Flüchtlingsschübe lösen eine Kettenreaktion aus: Die zuständigen Behörden sind überfordert, die Aktenberge wachsen, die Wartezeiten bis zur möglichen Ablehnung und Abschiebung werden länger. Das zieht noch mehr Flüchtlinge an. In Belgien sind inzwischen die Asylbewerberheime überfüllt. Neuankömmlinge müssen privat untergebracht werden und erhalten Sozialhilfe – das ist attraktiver als die teilweise andernorts üblichen Sachleistungen.
Um die Flüchtlingsströme gerechter und rationaler zu verteilen, haben alle EU-Staaten ein Interesse daran, ihre Asylkriterien und -verfahren anzugleichen. Auch die Hilfsorganisationen, die sich für die Rechte von Asylsuchenden einsetzen, halten eine einheitliche Regelung für nötig. Bislang erstellt jedes Land eigene Lageberichte als Grundlage für die Entscheider. Sollte es in Zukunft einheitliche europäische Lageberichte geben, so besteht aber auch hier die Gefahr, dass der kleinste gemeinsame Nenner zur Regel wird. In Deutschland ist die Vereinbarung zwischen Auswärtigem Amt und Menschenrechtsorganisationen, endlich auch Informationen nicht staatlicher Organisationen in den Berichten zu berücksichtigen, noch druckfrisch. In einer europäischen Schlussredaktion könnten die Erkenntnisse der NGOs dem Rotstift zum Opfer fallen.
Deshalb haben Pro Asyl, amnesty international und das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge an die Gipfelteilnehmer von Tampere appelliert, das Menschenrecht auf Asyl als Verpflichtung zu begreifen und die europäische Wertegemeinschaft nicht aus den Augen zu verlieren. In dieselbe Richtung geht eine Empfehlung Frankreichs, Deutschlands und Großbritanniens für Tampere, der aber geringe Erfolgsaussichten eingeräumt werden. Darin heißt es: „Die Forderung ,Nulleinwanderung‘ ist ebenso wie die der völligen Niederlassungsfreiheit abzulehnen; beide sind in gleicher Weise irreal.“
In dem Papier werden Maßnahmen aufgelistet, die dazu beitragen können, Fluchtursachen in den Herkunftsländern zu beheben: Ausbildungsförderung, Schaffung von Arbeitsplätzen, aber auch Unterstützung der Kräfte, die sich für Einhaltung der Menschenrechte einsetzen.
Solche präventiven Maßnahmen aber kosten Geld. Finnland hat einen gemeinsamen Fonds vorgeschlagen, der zur Verfügung stehen soll, wenn wieder Flüchtlingselend wie in Bosnien oder im Kosovo droht. Da die Deutschen aber nach EU-Schlüssel in alle Töpfe den Löwenanteil einzahlen müsste, haben sie bereits abgewinkt.
Was die neue belgische Regierung unter Bekämpfung der Fluchtursachen in den Herkunftsländern versteht, kann man derzeit am Flughafen Kinshasa beobachten: Dort kontrollieren belgische Entscheider mit Einwilligung der kongolesischen Behörden die Pässe schon am Flughafen.
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