: Kannibalismus bei den Neandertalern
■ Der Streit, ob Vorzeitmenschen Artgenossen verspeisten, ist wieder aufgeflammt. Knochenfunde zeigen, dass Neandertaler ihre Mitmenschen kunstgerecht zerlegt haben
Sie waren klein, untersetzt und vermutlich viel stärker als moderne Europäer. Warum sie vor 27.000 Jahren von der Bildfläche verschwanden, kann eigentlich niemand erklären. Denn die Neandertaler waren schon erfahrene Jäger, die ihr Wild sogar mit hölzernen Speeren zur Strecke brachten. Sie hatten auch Steinwerkzeuge, mit denen sie die Beute fachgerecht filettieren konnten: Hirsche, kleine Nashörner – und hin und wieder einen Artgenossen?
Über die delikate Frage, ob Neandertaler Kannibalen waren, wurde lange gestritten. Jetzt liegt der bislang beste Beweis für die prähistorische Menschenfresserei auf dem Tisch. In der Höhle „Moula-Guercy“, achtzig Meter über dem Westufer der heutigen Rhône in der französischen Ardèche gelegen, fand ein Team französischer und amerikanischer Wissenschaftler eine Ansammlung von Knochen, die darauf hindeutet, dass die dort vor etwa 100.000 Jahren lebenden Neandertaler einige ihrer Mitmenschen kunstgerecht zerlegt und aufgegessen haben.
Wie die Forscher im Wissenschaftsmagazin Science berichten, stammen die bislang 78 analysierten Neandertal-Knochen von mindestens sechs Individuen. Alle Schädel-, Arm- und Beinknochen der Opfer waren auf die gleiche Weise aufgebrochen, nur Hand- und Fußknochen blieben intakt. Offenbar habe man das Fleisch systematisch entfernt, danach seien die Gebeine mit einem Steinhammer auf einem Amboss aufgeschlagen worden, um an das Mark und die Gehirne zu gelangen, meinen die Forscher.
Die Schlussfolgerung, dass es sich dabei wirklich um Spuren von Kannibalismus handelt, gründen die Wissenschaftler vor allem auf den Vergleich mit ähnlichen Einschnitten und Brüchen bei fast 400 Knochenstücken von Tieren, die sie ebenfalls in der Höhle fanden. Deren Schädel wurden auf dieselbe Weise geöffnet, die Markknochen aufgebrochen. „Wenn wir davon ausgehen, dass es sich bei den Tierknochen in der Höhle um Überreste einer Mahlzeit handelt, müssen wir dies auch für die Menschen annehmen“, erklärte der Anthropologe Alban Defleur von der Universität Marseille.
Ob die sechs Neandertaler während einer Hungersnot verspeist wurden oder als Bestandteil eines sozialen Rituals, steht noch nicht fest. Das reiche Nahrungsangebot im Umkreis der Höhle lasse ein „Überlebensszenario“ jedoch unwahrscheinlich erscheinen, meint Defleur. Bislang fand sich auch kein Hinweis auf eine Begräbniszeremonie. Weil es kaum Brandspuren gibt, müssten die Neandertaler das Fleisch entweder roh verzehrt oder es vor dem Kochen von den Knochen abgetrennt haben. Vereinzelte Hinweise, die sich als Zeichen von Kannibalismus deuten ließen, wurden früher auch schon an Knochen aus anderen europäischen Höhlen entdeckt. Kritiker hielten dem Verdacht der Menschenfresserei stets entgegen, dass dieselben Spuren auch von Raubtieren, durch das Säubern der Knochen bei den Vorbereitungen zu einer Beerdigung oder durch grobe Unvorsicht der Archäologen selber verursacht worden sein könnten.
Die Berliner Prähistorikerin Heidi Peter-Röchel wollte 1993 unter die ganze Diskussion schon einen Schlussstrich ziehen. Die zahllosen Geschichten über Menschenfresserei, die zu allen Zeiten auf der Welt kursierten, seien, so glaubte Peter-Röchel nachgewiesen zu haben, in Wahrheit nur „Mythen“ – eine „nützliche Metapher“, in die Fremdenfeindlichkeit, Hass und tiefste Abscheu eingegangen seien. Ihr und anderen Kannibalismus-Skeptikern müssen die mit aller Sorgfalt durchgeführten und dokumentierten Ausgrabungen der französischen und amerikanischen Forscher zu denken geben. „Oh je, jetzt geht der Streit wieder los ...“, stöhnte der Berliner Ethnologe Horst Cain schon vor zwei Jahren, als Science bereits neue Hinweise auf intensiven und bis vor wenigen hundert Jahre andauernden Kannibalismus beim Indianervolk der Anasazi präsentierte. Auch Bewohner der Fidschiinseln und von Papua-Neuguinea, Cains persönliches Fachgebiet, wurden wiederholt der Menschenfresserei verdächtigt. „Wir behaupten ja nicht, dass alle Neandertaler Kannibalen waren“, besänftigt Defleurs amerikanischer Kollege Tim White vorsorglich die Gemüter: „Wir sagen nur, dass es einige Kannibalen unter den Neandertalern gab.“
Manche mögen es in diesem Zusammenhang tröstlich finden, dass es sich genetischen Untersuchungen aus jüngerer Zeit zufolge beim Neandertaler nicht um unseren unmittelbaren Vorfahren handelt, sondern um eine ausgestorbene Seitenlinie der Menschheitsentwicklung. Andere, wie der spanische Anthropologe Juan Luis Arsuaga, suchen ihr Heil offenbar schon in einer Flucht nach vorn. „Für mich ist das, so paradox es klingt, ein sehr menschliches Verhalten, das auf einen menschlichen Geist hinweist“, kommentierte er die jüngste Entdeckung. Auch Tiere würden manchmal Artgenossen töten und essen, aber nur von Menschen sei „systematischer Kannibalismus“ betrieben worden, sagte Arsuaga: „Das ist die dunkle Seite der menschlichen Medaille.“
Irene Meichsner
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