: Europa schaut auf solche Spiele“
Bierhoff eingebüchst, zehnlungig gerannt: Locker ledert Hertha BSC den einst großen AC Mailand mit 1:0 ab und träumt jetzt von ziemlich großen Zeiten ■ Aus Berlin Bernd Müllender
Die Zeitungsständer mit den Berliner Boulevardblättern hatten gestern morgen schwer zu tragen an Schlagzeilen, die fast so hoch waren wie ein Torpfosten breit: „Hertha! Du bist der Stolz von Berlin“, titelten die einen, „Hertha Weltklasse“ die nächsten, und gleich daneben stand über die „himmlische Hertha“ schlicht: „Jahrhundertsieg“.
„Jaaaa“ (Bild), das 1:0 gegen den AC Mailand war wirklich ein richtiges Klassespiel. Dank einer taktisch klugen Hertha, die offensiv verteidigte ohne die vorher vermutete „Berliner Mauer“ vor dem eigenen Tor, die den Gegner ständig beschäftigte mit Laufenslust aller überall und die mit dem halbhohen und mindestens zehnlungigen Dariusz Wosz den alles überragenden Spieler hatte. Kontrahent Milan erlaubte den herthanischen Glanz mit Arroganz, Pomadigkeit und einem kaum existenten Angriff, wo, wo die Gazzetta dello Sport gestern lauter „Schiffbrüchige“ ausmachte. Hinzu kam eine oftmals unitalienisch unentschlossene Abwehr vor einem Greifer Abbiati, der Szenen hatte wie Oliver Reck kaum in seinen besten Tagen.
Hertha BSC hat sich durch den heißen Sieg in eiskalter Nacht zumindest den dritten Platz gesichert und damit für das Uefa-Cup-Achtelfinale qualifiziert. Berlins Manager Dieter Hoeneß hatte das „nach diesem tollen Spiel frisch und frech nach vorne“ in den allgemeinen Überschwang hinein nüchtern festgestellt.
Indes: Vieles spricht dafür, dass es für Hertha weitergeht in der Champions League. Geschafft ist es, wenn sie nächsten Dienstag daheim vor mutmaßlich zigtausend Türken gegen Galatasaray Istanbul gewinnen. Schon bei einem Remis aber droht trotz der glänzenden Ausgangsposition noch das Aus auf der Ziellinie. Daran wollte auch Dieter Hoeneß nicht denken. Vorsichtig und gesetzt referierte er seine Freude: „Wir sind nicht unbescheiden, aber jetzt müssen wir zupacken und weiter an unsere Mission glauben.“
Der Auftrag heißt: sich in der Branche nachhaltig einen Namen machen. „Viel Renommee und Sympathie“ bringe ein solcher Triumph, denn „Fußball-Europa schaut auf solche Spiele“, formulierte sich Hoeneß in die Nähe von Westberlins Nachkriegsbürgermeister Ernst Reuter. Um gleich wieder den Schwaben in sich sprechen zu lassen: „Jetzt haben wir auch ein paar Mark mehr auf der hohen Kante.“
Dafür sorgen die Uefa mit ihren sprudelnden Geldtöpfen für League-Siege und, so Hoeneß, „ganz klar einige verbesserte Perspektiven“ in den laufenden Verhandlungen mit Megasponsor Ufa: Die Verträge bis 2009 sind bald unterschriftsreif, und Hoeneß („noch keine Details heute“) machte durchaus den Eindruck, dass er die hohe Kante für die anstehenden Mittelzuflüsse ziemlich verbreitern muss.
„Das war ja nicht der deutsche Spieltag“, sagte Hoeneß noch mit Blick auf die Ergebnisse. In besonderer Weise galt das auch für Milans Oliver Bierhoff (32). Vorher hatte der Nationalelf-Kapitän staatsmännisch in sich hineingehorcht: „Es ist ein seltsames Gefühl, erstmals in unserer neuen Hauptstadt zu spielen.“ Nähere Ausführungen zu seinen Gefühlen machte er nicht. Was kann es gewesen sein? Was wurde es schließlich?
Sicher ein 90-minütiges Gefühl der Enge, weil ein überraschend wendiger Thomas Helmer ständig an ihm klebte wie die Fliege an der Klatsche. Bierhoffs auffällige Unbeweglichkeit löste manch hämische Kommentare aus den Fankurven aus, die düstere Erinnerungen an seine Zeiten bei Bayer Uerdingen wachgerufen haben dürften, wo er vor gut zehn Jahren seine Profikarriere begann und meist verlacht wurde wegen seiner Staksigkeit. Eingeklemmt war er Mittwochabend ständig, quasi eingebüchst. Zuletzt hatte Mailands Presse gehöhnt, der Torjäger im zeitweiligen Ruhestand sei „so beweglich wie Dosenfleisch in der Tiefkühltruhe“.
Mehrfach sah man, wie der Frust in ihm tobte, was durch mancherlei enttäuschte Geste und wütende Blicke deutlich wurde: Erst winkte er, dann winkte er ab – derart unbeachtet zu bleiben, dürfte auch das wenig schöne Gefühl von Einsamkeit ausgelöst haben. Leichter Schmerz (körperlich) schien auch dabei: Immer wieder mal nestelte Oliver Bierhoff an seiner Lippe.
Das Gefühl, den schönen runden Ball zu treten, war Bierhoff nur selten beschert. „Konfus gespielt“ habe Milan, sagte er nachher treffend. Und: „Alle drängten in die Mitte.“ So verdankte Oliver Bierhoff die klaustrophoben Gefühle auch den eigenen Mitspielern. Beim Schlusspfiff hatte er ein paar Mal verlegen am Trikot gezupft, zwischen Bauch und Brust, da wo vermutlich auch bei Fußballern die Zentren der Gefühle sitzen. Und Angst vor der Zukunft hat er: Den Zustand der Seinen nannte er „Besorgnis erregend“.
Kein schöner Tag: Den Hauptstadtrasen verließ Oliver Bierhoff gesenkten Hauptes.
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