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Der letzte Schrei Peróns

Argentinien vor den Präsidentschaftswahlen: Der nüchterne Fernando de la Rúa soll das Land vom Überschwang der Ära Menem heilen    ■ Aus Buenos Aires Ingo Malcher

Auf der Plaza Sicilia im Zentrum von Rosario fehlen plötzlich die fliegenden Händler mit Zuckerwatte und den dicken argentinischen Würstchen vom Holzkohlengrill. In den Seitenstraßen stehen Polizeiwagen quer, der Verkehr wird umgeleitet.

Die Straßenhändler schreien heute ein paar hundert Meter weiter, am Denkmal für die Nationalflagge. Von sämtlichen Zufahrtsrouten rückt das Parteivolk an, in Formationen geordnet nach Stadt und Provinz, riesige Transparente schwenkend. „Radikale Jugend, Santa Fe, Sektor 214“, „Alianza Pinamar – Costa Atlántica“. Zu jedem Zug gehören Trommler, die mit kurzen Hartgummischläuchen das Fell ihrer Instrumente bis zur Ekstase bearbeiten. Ihre T-Shirts triefen vor Schweiß.

Das sieht eher nach einem Fußballderby aus als nach einer Politikveranstaltung. Fernando de la Rúa, der Präsidentschaftskandidat des Parteienbündnisses Alianza, wird hier seine Wahlkampagne beschließen. Und seine Partei, die Radikale Bürgerunion (UCR) – kurz die Radikalen genannt –, lässt in den Parteifarben aufmarschieren. Die Mitte-links-Gruppierung Frepaso zieht mit.

Auf dem Platz wird es immer enger. Frauen mit „De la Rúa Presidente“-T-Shirts tanzen Cumbia zu de la Rúas Wahlkampfschlager „Somos mas“ („Wir sind mehr“). Punkt acht Uhr abends wird die Musik aufgedreht, strahlen Scheinwerfer in den Himmel vor dem Denkmal. Bengalische Feuer in den Parteifarben brennen, Nebelkerzen werden angezündet, die Meute ruft: „De la Rúa Presidente!“ und „Somos mas!“. Sämtliche Wahlwerbespots von de la Rúa werden auf Videoleinwände gebeamt. Mit ernster Miene blickt er da auf seine Zuschauer hinab und sagt: „Sie sagen, dass ich ein Langweiler sei: hah!“ – als sei er beleidigt, dreht er den Kopf in die Kamera und konstatiert, dass zehn Jahre Carlos Menem eine „Fiesta für wenige“ waren. „Das wird jetzt aufhören.“

De la Rúa hat mit dem Langweiler-Image gespielt. Er ist nicht der Typ, der Emotionen erzeugen könnte. Seine Rhetorik ist holprig, vieles wirkt einstudiert – ein argentinischer Rudolf Scharping. Doch genau das kam ihm zugute. Nach zehn Jahren Carlos Menem verspüren die Argentinier Lust auf einen Präsidenten, der Ernsthaftigkeit und Ehrlichkeit ausstrahlt.

Da konnte er auf ein politisches Programm weitgehend verzichten. Die Unterschiede zwischen ihm und seinem Gegner Eduardo Duhalde, dem peronistischen Gouverneur der Provinz Buenos Aires, liegen eigentlich nur in der Wortwahl: Beide sind für weitere Marktöffnung und Privatisierung, für Währungsstabilität und Bekämpfung der Korruption. Die Parität des Peso zum Dollar wagt keiner anzutasten, weil das Erinnerungen an die 80er-Jahre wecken könnte, in denen Argentinien mit Inflationsraten von bis zu 5.000 Prozent aufwarten konnte.

De la Rúa hat den Ruf des Saubermanns. „Er hatte von Anfang an einen klaren Vorsprung, weil er als sozialdemokratischer Reformer gilt“, sagt der Meinungsforscher Roberto Bacman, der für die größte argentinische Tageszeitung Clarin die Umfragen erstellt. „Ob das stimmt, bleibt dahingestellt, aber die Wahlpropaganda wirkte: Je weniger Inhalt, desto besser lief der Wahlkampf für ihn.“

Wenn es nach den Meinungsumfragen geht, dann wird de la Rúa bereits im ersten Wahlgang deutlich vor Duhalde liegen. Und das liegt vor allem daran, dass der Menemismus abgewirtschaftet hat: Argentinien steckt in einer schweren Wirtschaftskrise. Die überbewertete Währung hat den Export gelähmt, weil argentinische Produkte auf dem Weltmarkt überteuert sind. Ein weiterer harter Schlag ist, dass die Weltmarktpreise für Weizen und Soja in den Keller gerutscht sind. Die Arbeitslosigkeit liegt derzeit nach offiziellen Angaben bei fast 15 Prozent. Täglich stehen mehr ambulante Händler in den Bussen und Zügen der großen Städte, um Feuerzeuge, Schnürsenkel oder Krawatten zu verkaufen. Wer in Argentinien ohne Arbeit ist, ist ohne Einkommen. Wenn gegen Mitternacht die McDonald's-Filialen in Buenos Aires schließen und ihren Müll auf die Straße kippen, warten schon die Bewohner der Armensiedlungen darauf, in dem Berg noch etwas zu finden.

Mit der Armut nimmt die Gewalt zu. Für die Probleme des Landes wird Menem verantwortlich gemacht und mit ihm Duhalde, der immerhin für einige Jahre sein Vizepräsident war. So fiel es de la Rúa leicht, sich als Kandidat des Wechsels zu präsentieren. Dabei ist der Spielraum marginal, den der Internationale Währungsfonds (IWF) und Investmentbanken ihm lassen.

Auch die internationale Finanzwelt hat sich hinter de la Rúa gestellt. In den Zeitungen verkündeten die Repräsentanten von Goldman Sachs und Merryl Lynch, de la Rúa sei ihr Mann. Das Establishment will diesmal de la Rúa, so wie es vor vier Jahren Menem wollte. Duhalde sei ein launischer Peronist der alten Schule, er gilt als unberechenbar. Eine Zeit lang konnte er den Spagat durchhalten, gleichzeitig Teil der Regierung und Teil der Opposition zu Menem zu sein. Doch je länger der Wahlkampf andauerte, umso unglaubhafter wurde dies.

Um Mitternacht marschieren mächtige Arbeiterkolonen in Fabrikuniformen über die Plaza de Mayo im Zentrum von Buenos Aires, gegenüber dem Regierungspalast Casa Rosada. Wer nicht Reißaus nimmt, wird von ihnen überrollt. Trommler schlagen wie wild auf ihre in den Nationalfarben Weiß und Blau bemalten Instrumente.

Vor der Casa Rosada ist ein überlebensgroßes Porträt von Juan Domingo Perón und Evita aufgebaut – schwarz auf blauweißem Grund. Die Stimmung ist feindselig und aggressiv, Bierflaschen fliegen und zerplatzen. „Duhalde Presidente“ fordern Transparente. Immer wieder wird der Pernisten-Marsch angestimmt: „Perón, Perón, wie groß bist du.“ Es ist ihr Tag heute. Auf den Tag genau vor 54 Jahren forderten hier tausende Fabrik- und Agrararbeiter aus dem Landesinnern die Freilassung ihres Generals Juan Domingo Perón. Spät in der Nacht musste die Regierung dem Druck der Straße nachgeben, und Perón eilte auf die Plaza, um genau von der Stelle zu seinen Anhängern zu sprechen, von der Duhalde jetzt gleich das Wort erheben wird.

Menem blieb im Hintergrund und ließ Duhalde rackern

Um kurz nach eins ist es dann so weit. Aus den Boxen hämmert der Peronisten-Marsch in ohrenbetäubender Lautstärke. Tausende von Kehlen stimmen ein. „Perón, Perón, du bist der erste Arbeiter.“ Duhalde steht auf der Bühne, singt mit. Wie immer hat er die Ärmel seines weißen Hemdes hochgekrempelt: ein Mann, der zupackt. „Peronismus ist nichts, das man in Meinungsumfragen messen kann, Peronismus fühlt man“, ereifert er sich, die rechte Faust schlägt im Takt seiner Rede. Die Plaza brüllt mit: „Man fühlt es, man fühlt es, Duhalde wird Präsident.“ Auf sechs Videoleinwänden ist Duhalde zu sehen. Er brüllt sich am Mikrofon heiser: „Kommenden Sonntag werden wir mit einer Ohrfeige gewinnen!“ Tosender Applaus. Aber es ist doch nur der letzte Schrei des Peronisten, der die Welt gegen sich hatte. Seine eigene Partei hat ihn kaum unterstützt. Menem fürchtet um seine Vorherrschaft in der Organisation, wenn Duhalde Präsident wird. Er hielt sich lieber im Hintergrund, während Duhalde sich die Hacken abrannte.

Die peronistische Bewegung duldet nur einen Führer – Menem wollte ihr Kopf bleiben. Doch die Verfassung verbietet ihm eine dritte Amtszeit – ohne Chancen wäre er nicht gewesen. Stattdessen wurde er zum Organisator der Niederlage seines Parteikollegen.

Zurück nach Rosario: Dort nagen die ungeduldigen Anhänger de la Rúas an den Stumpen ihrer Zigarren und hoffen, dass die Vorredner bald zum Ende kommen. Plötzlich geht die Flutlichtbeleuchtung aus. Der Schlager „Somos mas“ dröhnt erneut aus den Boxen, das Parteivolk jubelt wie bei einem Rockkonzert. „Meine Damen und Herren“, schallt es ölig aus den Lautsprechern, „heute hier, mit uns, der nächste Präsident der Republik Argentinien, FERNANDO DE LA RÚA!!!!!“ Der Einmarsch des Giganten, zu Cumbia-Rhythmen. Mit seiner Anzughose, dem hellblauen Hemd und dem beigen Lederblouson mit Strickbund ist er wie ein in die Jahre gekommener Lateinlehrer gekleidet. Aber er hat dazugelernt. Anstatt ans Rednerpult marschiert er zielsicher zum Bühnenrand, schüttelt Hände, streckt die Arme in Siegerpose in die Höhe. Er lässt sich feiern. Nach zwei Monaten intensivem Wahlkampf weiß er, dass er sich nicht hinter seinem Pult verstecken darf, sondern dass er zum Angriff blasen muss. Es hilft auch, hat man ihm gesagt, wenn er die Hände beim Sprechen etwas bewegt. Es kostet ihn spürbar Überwindung. „Wir sind mehr, die gegen Arbeitslosigkeit sind, wird sind mehr, die gegen Armut sind, wir sind mehr, die ohne Angst leben wollen.“ Er wird immer schneller, ehe er sich bremst und, die Silben betonend, sagt: „Wir sind mehr, und daher werden wir am Sonntag die Wahlen gewinnen, weil dieses Land sich ändern muss.“

Cumbia-Rhythmen erklingen aus den Lautsprechern. Die Fans toben und sind gerührt: Einige schwingen ihre Flagge mit Tränen in den Augen. De la Rúa lässt sich feiern, er winkt und weiß, dass er den Auftritt überstanden hat – die Erleichterung ist ihm anzumerken. Er glaubt, er hat es geschafft. Er lässt sich sogar zu einem kurzen Hüftschwung hinreißen, danach guckt er schelmisch, aber dann wird er schnell wieder ernst.

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