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Lomuland hat ausgerannt

■ Alles eine Frage der Philosophie: Sensationell schaltet Frankreich bei der Rugby-WM den haushohen Titelfavoriten Neuseeland aus

Berlin (taz) – On a gagné, sie haben gesiegt. Die Blauen aus Frankreich haben am Sonntag im WM-Halbfinale die furchterregendste Truppe der Welt im Rugby geschlagen, die All Blacks aus Neuseeland. Es klingt wie die simple Geschichte von David gegen Goliath; dabei war der großartige Sieg der Franzosen eine Frage der Philosophie.

Die „Equipe Nationale“ war eine Truppe der Geschlagenen, schon vor der WM. Seit mindestens einem Jahr gefleddert wie die Deutschen im Fußball: Grausige Niederlagen gegen kleine Rugby-Nationen, dazu ein Spielaufbau mit Fehlerquoten, die in Frankreichs rugbybegeistertem Süden nur noch Mitleid auslösten. Doch genau das drehten die Franzosen nun in einen Vorteil: „Wir sind so fiebrig, so platt, so ungenau“, schrieb die Zeitung Le Monde, „so viele Zeichen können nicht trügen: Auf ins Finale!“

Neuseeland begann wie meist: Wohl organisiert den Gegner ins Schwitzen bringen, bis er Fehler macht, dann den Ball zu Jonah Lomu spielen, dem berüchtigtsten Spieler der Welt. Der Zwei-Meter-Athlet wiegt 115 Kilo, soll angeblich die 100 Meter unter elf Sekunden laufen und gilt als einer der komplettesten Athleten der Sportwelt. Er krachte denn auch zweimal durch die französischen Reihen und brachte den All Blacks eine Vorsprung von 14 Punkten.

Mon Dieu, dachten alle. Doch dann kam die Philosophie ins Spiel: „Es ist nicht so, dass wir es nicht wagen, weil alles so schwierig ist; vielmehr wagen wir nicht, dass alles schwierig ist“, hatte die sonst so trockene Le Monde den Spielern Weisheiten des Altdenkers Seneca mit auf den Weg gegeben und hinzugefügt, dass Seneca sicher „ein guter Dritte-Reihe-Stürmer im Rugby gewesen wäre“. Die Spieler wagten. Plötzlich spielten sie Rugby ganzheitlich, von harten und brutalen Zweikämpfen bis zu perfekter Verteidigung, von genialen Spielzügen bis zu überraschenden Einzelaktionen. Unüberwindbare Verteidigung der Pazifikgiganten? Die Blauen legten vier Versuche, herausgespielt durch geniale Kicks, durch überraschende Angriffe, durch millimetergenaue Pässe. Und gewannen 43:31. Man habe eben, so der Nationaltrainer, „diese 80 Minuten der Wirklichkeit entflüchten müssen“.

Nur getretene, wagemutige Genies können ihre Fans so beglücken. Manchen (auch Seneca?) gelten sie jetzt sogar als Favoriten fürs Finale am Samstag gegen Australien. In Neuseeland kam es derweil zum Kurssturz an den Börse. In diesem rugbyverrückten Land kann es wirklich an der Schmach der All Blacks gelegen haben. Reiner Metzger

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