: Win-Win-Situationen
Fast philosophiefrei: das Zentrum für globale Ethik in Wittenberg ■ Von Daniel Bax
Der Name Wittenberg hat noch immer einen guten Klang, vor allem in den USA. Das legen jedenfalls die vielen Eintragungen amerikanischer Touristen in das Gästebuch der Stadt nahe, das im Fremdenverkehrsamt ausliegt, gegenüber jener Schlosskirche, an deren Tor Martin Luther einst seine 95 Thesen anschlug. Dort kann man auch Luther-T-Shirts kaufen und Socken, bestickt mit dem berühmten Satz: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“
Einer, der dem historischen Reiz Wittenbergs erlegen ist, ist Andrew Young. Er engagiert sich für ein Projekt, das dem einstigen Mekka der Protestanten wieder weltweite Beachtung bringen soll. Der 65-Jährige war in den Sechzigern ein Mitstreiter von Martin Luther King und später UN-Botschafter der USA, als Bürgermeister von Atlanta holte er die Olympiade in seine Stadt. Von ihm stammt die Idee zu einer internationalen Konferenzstätte in der Lutherstadt, für die er in den letzten Jahren nicht nur den amerikanischen Unternehmer Paul Rosser, sondern auch Hans-Dietrich Genscher, den anhaltinischen Ministerpräsidenten Reinhard Höppner und dessen Wirtschaftsminister Klaus Schucht erwärmen konnte. Nichts weniger als ein „Zentrum für globale Ethik“ sollte im Süden von Sachsen-Anhalt aus der Taufe gehoben werden. Ein entsprechender Verein wurde vor zwei Jahren gegründet, den Vorstand teilen sich Young und Genscher, der bekanntlich im benachbarten Halle geboren ist.
Zum Start des Zentrums trommelten die beiden nun aus ihrem Bekanntenkreis zusammen, was Rang und Namen hat. Zwar gab es kurzfristig noch einige empfindliche Absagen, darunter von UNO-Generalsekretär Kofi Annan, vom Bankier Alan Greenspan und von König Albert von Belgien. Trotzdem geriet der Gründungskongress der geplanten Ethikzentrale dank internationaler Politprominenz fast zum Staatsakt, zumindest aber zu einer Art Klassentreffen unter Spitzenpolitikern. Zur Eröffnung warfen sich Genscher und Johannes Rau gut gelaunt rhetorische Bälle zu, während Andrew Young mit dem Pathos des gelernten Predigers eine „wunderbare Symphonie der Brüderschaft“ beschwor. In salbungsvollen Grußworten wurde Wittenberg als Denkfabrik der Zukunft gezeichnet. Doch so sehr von neuem Denken die Rede war, in Sachen Ethik war auf den Podien wenig Neues zu hören – teils, weil man die Teilnehmer fast durch die Bank nach dem Senioritätsprinzip ausgewählt hatte, teils, weil neben Politikern, Theologen und Unternehmern die Moralphilosophen, Psychologen und Kulturwissenschaftler fehlten.
Dafür schwirrten umso mehr modische Buzzwords und flotte Formulierungen durch den Raum, von „Win-Win-Situationen“ und der „Globalisierung als Gestaltungsaufgabe“. Nicht das Recht des Stärkeren, sondern die Stärke des Rechts gelte es durchzusetzen, und die „Raison d'humanité“ müsse Vorrang vor jeder Staatsräson haben, wurde übereinstimmend postuliert. Selten an konkretem Beispiel. Am meisten Aufsehen erregte Antje Vollmer, die den doppelten Maßstab in der Behandlung des Kosovo- und des Tschetschenien-Konflikts beklagte und sich einen internationalen Gerichtshof für Menschenrechte wünschte. Dieser müsse die Verletzung von Minderheitenrechten untersuchen und darauf reagieren können, notfalls sogar mit Interventionsbitte an den UN-Sicherheitsrat. Das sei zwar utopisch. Aber statt von einzelnen Akteuren ethisches Handeln zu erwarten, gelte es, geeignete Institutionen zur Kontrolle zu etablieren. Erwartungsgemäß ganz anders sahen das die Ökonomen, als es um „Ethik und Wirtschaft“ ging. Der Deutsche-Bank-Aufsichtsrat mit dem schönen Namen Ulrich Cartellieri betonte, der Ruf nach Ordnung sei problematisch, wichtig sei Aufklärung über die Wohlfahrtseffekte des Marktes statt „Angstkommunikation“.
So breit das Spektrum der aufgeworfenen Fragen, so wenig tief wurde letztlich gebohrt. Die Konferenz allein war schon die Botschaft, nicht zuletzt ein Schaulauf durch die schönsten Gebäude der Stadt, als Werbung für die Idee eines Ethikzentrums. Ein öffentlicher Teil der Konferenz wurde in die Stadtkirche verlegt, wo Reinhard Höppner vor dem Altar das Podium zu „Jugend und Ethik“ moderierte, im fahlen Scheinwerferlicht. Doch außer den rund 100 ausgewählten Konferenzteilnehmern fand sich auf gepolsterten Holzbänken kaum jemand aus der Stadt, die lediglich als Kulisse diente. Sollte sich Wittenberg auf der Landkarte des internationalen Tagungstourismus etablieren, wird sich erst zeigen, welche Impulse das für den Ort und die Region bringt, deren wirtschaftlicher Motor noch immer stottert. Doch der Laden mit dem hochtrabenden Namen, der bisher kaum mehr als eine Briefkastenfirma ist, muss erst zum Laufen gebracht werden. Als die Tagung am Montag mit einer Deklaration endete, blieb es bei vagen Absichtserklärungen. Nicht zuletzt von den Geldgebern wird es abhängen, welche Form das „Zentrum für globale Ethik“ finden wird – mehr eine Forschungsstätte, ein interkultureller Tagungsort oder, was vor allem Genscher vorzuschweben scheint, ein politisches Entscheidungszentrum à la Camp David.
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