: Spieltrieb und Gestaltungswille
■ Musikalische Abenteuer mit ungewissem Ausgang: Anthony Coleman und „Sephardic Tinge“ beindrucken im Westwerk verschmitzt, unprätentiös und magisch
Klavier, Bass und Schlagzeug, also das klassische Jazztrio. Aber alles rumpelt ein bisschen, und der sogenannte Swing kommt verschroben daher. Nach der zweiten Nummer fragt Anthony Coleman ins Westwerk-Publikum, ob jemand das Stück erkannt hat. Ein Mutiger tippt auf Coltrane – und liegt ein halbes Jahrtausend daneben. Mit Sephardic Tinge greift der amerikanische Pianist jüdischer Abstammung auf die Musik seiner entfernten Vorfahren spanischer Herkunft zurück und schließt sie mit seinen Jetztzeit-Erfahrungen kurz: Im Schmelztiegel von Colemans New Yorker Umgebung wird die Koexistenz verschiedenster Stile laufend neu gemischt. Aber beileibe nicht immer so produktiv aufs Spiel gesetzt, wie es bei Sephardic Tinge der Fall ist.
In seiner unerschrockenen Hingabe an die gemeinsame Sache erinnert Colemans Trio mit Ben Street (Bass) und Michael Sarin (Schlagzeug) durchaus an Duke Ellingtons Money Jungle-Dreigestirn mit Charles Mingus und Max Roach. Die Basisbanalitäten sind beabsichtigt: Der Spieltrieb soll sich veräußern können, bevor der Gestaltungswille Formen annimmt. Und so kommen – mal der Reihe nach und mal über Kreuz – die instrumentalen Fähigkeiten, die musikalischen Temperamente und die individuellen Charaktere der drei zur Entfaltung. Bei Schlagzeuger Michael Sarin dominiert wirbelnd, ratternd und knisternd der Übermut, Ben Street zeichnet diskret für die kühne Statik verantwortlich und in Anthony Coleman waltet ein verschmitzt-begnadeter Schrat, dem ein einziges Motiv, ja eine Floskel genügt, um die anderen zu einem neuen Abenteuer mit ungewissem Ausgang anzustacheln.
Mit zunehmender Konzertdauer begreift man, dass die Musik von Sephardic Tinge mit Klezmer tatsächlich kaum etwas gemein hat. Und dass Jazz zwar ihr Weg, nicht aber das Ziel ist – selbst dann, als die drei barmherzig eine Zirkusnummer von Jelly Roll Morton aus dem Hut zaubern. Auch die funktioniert wie eine magische, aber – 9. November hin oder her – völlig unprätentiöse Uraufführung in Anthony Colemans Hamburger Wohnzimmer.
Andreas Schäfler
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