■ Nebensachen aus San Salvador: Von einem elenden und sehr qualvollen Gesetz
San Salvador nimmt, was die Umweltverschmutzung angeht, in vielen Sparten einen Spitzenplatz in Lateinamerika ein. Zum Beispiel: Keine andere Großstadtluft des Halbkontinents enthält auch nur annähernd so viele krebserregende Rußpartikel. Oder: Durch keine andere Stadt fließt ein Fluss, der so dreckig ist wie der Rio Acelhuate. Umweltschützer sagen, was da fließe, sei kein Wasser mehr, sondern ein Cocktail aus verschiedenen Giften. Und auch bei einer eher natürlichen Form der Stadtverschmutzung dürfte San Salvador einen einsamen Spitzenplatz einnehmen: An keinem anderen Ort der Welt gibt es so viele Männer, die mitten im Zentrum vor irgend einer Mauer oder einem der wenigen verbliebenen Bäumen ihren Hosenladen öffnen und Druck ablassen.
Jahrzehntelang hat sich niemand am Anblick pissender Männer gestört. Das Zentrum der Stadt ist das heruntergekommenste und gefährlichste in ganz Lateinamerika. Feine Leute gehen da erst gar nicht hin. Und die weniger Feinen stellen sich, so sie Männer sind, im Notfall selbst vor einen Baum.
Bürgermeister Hector Silva aber kommt aus einer feinen Familie und hat trotzdem seinen Arbeitsplatz mitten im Zentrum. Er konnte jetzt nicht mehr peinlich berührt wegsehen und erließ ein Stadtgesetz, nach dem jeder, der in der Öffentlichkeit beim Verrichten seiner Notdurft ertappt wird, mit einem Bußgeld von umgerechnet gut hundert Mark bestraft wird. Für die meisten Salvadorianer ist das die Hälfte eines Monatslohns.
Im Zentrum von San Salvador arbeiten täglich tausende von Straßenhändlern. Dazu kommen hunderttausende von Passanten. Etwa die Hälfte davon sind Frauen, und es wird mir auf immer ein Rätsel bleiben, wie sie sich dieses menschlichen Problems entledigen. Die männliche Hälfte aber wird vom neuen Stadtgesetz zur Straftat getrieben. Denn für Abhilfe hat der Bürgermeister nicht gesorgt. Im gesamten Zentrum gibt es gerade sechs öffentliche Bedürfnisanstalten – für mehrere hunderttausend Menschen. Über ihren Zustand braucht deshalb kein Wort verloren zu werden.
Das neue Stadtgesetz von San Salvador ist nicht das einzige Gesetz des Landes, das vom Bürger etwas verlangt, was nur unter großen Qualen zu erfüllen ist. So gibt es zum Beispiel einen Erlass, nach dem es Männern verboten ist, hinter Frauen her zu pfeifen. Für lateinamerikanische Machos ist dies eine natürlich Reflexhandlung, die nur unter schmerzhaften psychischen Verbiegungen unterdrückt werden kann. Oder ganz ernsthaft: Während der jüngsten Epidemie des tropischen Dengue-Fiebers war es verboten, Wasser in offenen Behältern zu sammeln, weil sich dort die krankheitsübertragenden Moskitos vermehren. In den meisten Armenvierteln der Stadt aber kommt nur an einem einzigen Tag in der Woche Wasser aus den Leitungen. Die Bewohner sammeln es deshalb in großen Fässern. Sie standen während der Epidemie vor der Alternative, entweder schlicht zu verdursten oder straffällig zu werden.
Doch den Salvadorianern bleibt ein Trost: So unsinnig viele Gesetze sind, so ineffektiv ist auch die Polizei. Von hundert Straftaten werden gerade zwei aufgeklärt. Bislang ist noch kein Fall eines öffentlichen Pissers bekannt geworden, der inflagranti ertappt und mit einem halben Monatslohn Geldbuße bestraft worden wäre. Toni Keppeler
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