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Auf zum Mount Everest

Nicolas Kiefer scheitert im Halbfinale der ATP-WM und erntet ein paar winzige Sympathiepunkte    ■ Aus Hannover Matti Lieske

Zum Jahresende gab es für Nicolas Kiefer ein seltenes Lob von Pete Sampras: „Es scheint, dass er einen guten Kopf auf den Schultern hat.“ Genau das wagen viele, die in der Vergangenheit mit dem Tennisspieler aus dem Solling zu tun hatten, zu bestreiten. Arrogant, unverschämt, kommunikationsgestört, mufflig sind noch die höflicheren Attribute, die dem 22-Jährigen zugeordnet werden. Seine Paraderolle als beleidigte Leberwurst, die ihn zuletzt dem Davis-Cup-Team fernhielt, tat ein Übriges, aufkeimende Popularität frühzeitig zu ersticken. Zudem eilt ihm der Ruf voraus, zwar in der Weltrangliste emsig nach oben zu klettern (inzwischen Rang 6), auch einige Turniere wie Taschkent, Halle oder Tokio zu gewinnen, aber bei wirklich wichtigen Gelegenheiten regelmäßig einzubrechen.

Bei der ATP-WM in Hannover, wo er es bis in Halbfinale schaffte und erst am Samstag mit 3:6, 3:6 gegen Pete Sampras ausschied, den „besten Spieler des Jahrhunderts“ (Kiefer), spielte das alles keine Rolle. Hier war er der „Hometown Boy“ (Agassi), weil seine Freundin in Hannover wohnt und er seine Freizeit dort verbringt. Hier war ein Großteil der jeweils knapp 14.000 Zuschauer fest entschlossen, ihn zu lieben und zu ehren wie einst in ferner Vergangenheit den großen Boris.

Doch Kiefer schien dem Frieden nicht zu trauen und hatte vor dem Turnier in jedem Interview rund zehn Mal verkündet, dass das Publikum ihn bestimmt durch die Matches tragen würde, und sogar per Boulevardzeitung einen Appell an die Öffentlichkeit gerichtet. Mit Erfolg. Spätestens nach dem Sieg gegen den garstigen Russen Jewgeni Kafelnikow konnte er aufatmen: „Es ist das erste Mal, dass ich so viele Menschen habe, die für mich jubeln.“

Und wird wohl vorläufig auch das letzte Mal gewesen sein. Dabei ist es weniger seine konzentrierte Emotionslosigkeit auf dem Platz, die begeisterungshemmend wirkt und die er schlüssig damit erklärt, dass er nicht vernünftig spielen könne, wenn er „den Hampelmann“ gebe. Es ist sein Spiel, dass es selbst dem wohlgesinnten Hannoveraner Publikum schwer machte, sich in die angestrebten euphorischen Zustände zu versetzen. Nüchtern und effektiv geht Kiefer seiner Arbeit auf dem Platz nach, macht wenige Fehler, holt aber auch wenige Punkte direkt. „Er schlägt gut auf, aber nicht großartig“, urteilte Todd Martin, der nach dem verlorenen Match, wie viele Kiefer-Gegner, der Meinung war, er habe sich allein selbst besiegt. „Er hat überhaupt keine Stärken“, hämte Kafelnikow.

Gern wird Kiefers Spiel mit dem von Andre Agassi verglichen. Agassi selbst räumt gewisse Ähnlichkeiten ein, verweist aber gleichzeitig auf eine fundamentale Abweichung: „Er nimmt die Bälle nicht so früh wie ich.“ Genau das macht den Unterschied aus zwischen Dynamik und bloßer Konstanz, zwischen Aggressivität und Abwarten, zwischen Show und purem Business. Und es macht den Unterschied aus, wenn es gegen Spieler wie Sampras geht. „Meine Stärke sind die Returns“, weiß Kiefer genau.

Gegen Sampras gelangen ihm nur wenige, weil der zu gut aufschlug. Und als er im zweiten Satz eine kleine Chance hatte, und das Publikum ihn tatsächlich zu tragen versuchte, fehlte ihm das kleine Quäntchen Power, der nötige Biss. Die rare Gelegenheit ging vorüber, der Rest war Formsache für den 28-jährigen US-Amerikaner. „Er hat ein gutes Spiel“, lobte Sampras dennoch, „er wird eine Weile oben sein.“ Wichtig wäre vor allem das nächste Jahr, denn nun sei der Deutsche ein „marked man“, jeder Gegner wisse um seine Stärke.

Im Feld von Hannover war Kiefer der jüngste Spieler. „Junge Spieler brauchen Zeit, sich zu entwickeln, auch charakterlich“, sagt sein Coach Bob Brett, der es wissen muss, denn er betreute einst Boris Becker. Auch Agassi war nicht immer der Charmeur von heute, was manchmal noch durchschlägt, etwa wenn er einem TV-Moderator „grässlichen Mundgeruch“ nachsagt. Kiefer spricht zwar immer noch jeden Satz mit einem trotzigen Unterton, mühte sich aber in Hannover um höfliche Verbindlichkeit und schränkte die nassforschen Sprüche über Konkurrenten ein. An seinen sportlichen Zielen lässt er keinen Zweifel. „Langfristig die Nummer 1 werden“, verkündet er selbstbewusst. Was dazu noch fehlt, weiß er genau: „Gegen Leute wie Sampras gewinnen.“ Am Samstag war er davon noch so weit entfernt wie der Solling vom Mount Everest.

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