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Aber niemand verletzt!

Frauen, Puppen, Mutationen: Die Kölner Ausstellung „Obsession“ widmet sich Künstlern, die sich ohne Publikum ihren Zwangsvorstellungen hingaben  ■   Von Ulf Erdmann Ziegler

Mädchen wimmeln in Märchenlandschaften wie aus dem Prospekt eines Kinderkaufhauses

Die Obsession ist im „Psychologischen Wörterbuch“ als Zwangsvorstellung übersetzt. Aber Obsession klingt poetischer. Neben dem O-Wort bietet der Kölnische Kunstverein das Etikett der „Outsiders“ an, das man rätselnd und nicht ohne kritisches Naserümpfen aus Amerika übernimmt. Wobei es ganz unmissverständlich wäre, die vier bereits verstorbenen Männer, deren Werke hier ausgestellt sind, als Außenseiter zu bezeichnen.

Nehmen wir Morton, 1909 – 1992. Er modellierte Figuren von Mädchen vor allem und auch von Jungen, aus wächsern glänzendem Material. Sie bekamen Perücken und wurden bunt bekleidet, um dann in schwarzweißen Fotografien szenisch arrangiert zu werden: lesend, schlafend, weinend. Um das Kinderzimmer zu simulieren, hatte sich der Junggeselle Morton die entsprechende Tapete besorgt.

Leider gibt man sich in Köln etwas bedeckt und zeigt die Puppen bekleidet. So muss man aus den Fotografien entnehmen, dass Morton den Brüsten der früh- bis spätpubertären Mädchen besondere Aufmerksamkeit widmete und die Vulva als pralles Kissen mit Schlitz, aber ohne Schamhaar gestaltete. Seine Fertigkeit in anatomischer (Zwangs-)Vorstellung war teils beträchtlich, wenn es ihm auch nicht gelang, die Anmut – die Dynamik – junger Körper wirklich zu treffen. Puppenhaft und eigenartig verhärmt wirken die Gesichter, was den fotografischen Inszenierungen sehr zum Nachteil gereicht. Es sind übrigens Vergrößerungen auf Plastikpapier, seidenmatt, aus den Achtzigerjahren, von Negativen, die aus den Dreißigerjahren stammen könnten oder aus den Sechzigern. Ohne Einblick in das Archiv bleibt das regressive Theater des Junggesellen an der Ostküste Amerikas von begrenztem Interesse.

Pädophilie ist ja zur Zeit sehr beliebt, wenn auch in der Stilisierung als vorgeblich letztes Tabu. Wohl um die Sache mit den Zwängen etwas abzuschwächen, haben die Kuratorinnen der Ausstellung, Dichter und Zander, Paul (1931 – 1999) und Eugene (1910 – 1983) dazugenommen. Eugene machte seine ansehnliche Ehefrau Marie in den Vierzigerjahren zum Pin-up-Modell einer plüschig arrangierten Aktfotografie. So ganz konnte sie sich das Grinsen nicht verkneifen, und das macht die Bilderserie – altes Material in verschiedenen Formaten und Tönungen – recht amüsant.

Paul jedoch verbrachte sein Leben ohne Gefährtin und rächte sich moderat, indem er Fotokopien von Frauenporträts schemenhaft kolorierte und die Augen dabei immer mit geschlossenen Lidern darstellte: als Mumifizierung der Unerreichbaren leicht zu verstehen; aber bildlich leider ohne jegliche skandalisierende Wirkung.

Studiert man die kurzen biografischen Abrisse im Katalog, erkennt man drei Muster, freiwillig oder gezwungen Außenseiter zu sein. Morton: eine Werkgruppe schaffen und es gut sein lassen. Eugene: sich als Universalkünstler imaginieren und partout nicht landen können. Paul: am sozialen Rand zu vegetieren und eine visuelle Obsession als kommunikativen Haken anbieten. Der Ur-Außenseiter der Kunst aber schafft ein riesiges Werk, dessen einziges Publikum er selbst ist. Nach seinem Tod wird es entdeckt, erst bestaunt, dann erschlossen und schließlich verehrt. Der herausragende Vertreter dieser Spezies war Henry Darger, dessen winzige Bude in Chicago, 851 Webster Street, so vollgestopft war mit Werken und gesammelten Artefakten, dass man im Nachhinein vermutete, er müsse die letzten Jahre seines Lebens im Lehnstuhl genächtigt haben. Das Zimmer ist im Wesentlichen erhalten, man kann es besichtigen. 1973 starb Henry Darger: 25 Jahre hat es gedauert, bis das Werk einer amerikanischen Retrospektive würdig befunden wurde.

In Köln sind die teils panoramaartigen Zeichnungen in schwebende Rahmen gehängt, sodass man die Vorder- und Rückseiten sehen kann. Es sind zum einen bukolische Szenen, die ein halbes bis zwei Dutzend Mädchen in Märchenlandschaften zeigen: niedlich wie aus dem Prospekt des Kinderkaufhauses, manche unbefangen nackt, und manche der Nackten behörnt wie Steinböcke. Die Gegenszenen zeigen die Mädchen in Bedrängnis: in einem verschneiten Wald an Pfähle gebunden; von grauen Männern mit Doktorhüten auf freiem Feld erwürgt; von Soldaten überfallen und anderen Soldaten heroisch errettet. In der Kriegsmetaphorik sieht selbst ein Blitzschlag aus wie eine Explosion, aber die eingeklebte, handschriftliche Bildlegende erläutert: „lightning strikes shelter but no one is injured“.

Die Wälder mögen von Disney sein, die Gartenszenen von Carl Larsson und die Interieurs von Norman Rockwell. Militaria kommen dazu. Ein Krieger ähnelt Hitler, ein anderer ist der typische Dolchchinese aus Hollywood. Der Zeichner hatte vielleicht kein Publikum. Aber allein war er nicht.

Als Colorist ist Darger durchaus geschickt: Ein gelber Raum mit einem altrosa Boden dient als in den Alptraum gewendetes Schulzimmer. Die Figuren sind nicht von Darger erfunden, sondern aus Vorlagen gesammelt, inventarisiert, durchgepaust und nachgezeichnet – dekontextualisiert, gewissermaßen. Ausgerechnet den Pippi Langstrumpfs hat der einsame Zeichner oftmals männliche Geschlechter verpasst, was die Mädchen noch lange nicht zu Jungen macht.

Dargers Werk ist geladen mit Ambivalenzen, aber es bleibt der Kindertusche treu, die er verwendete: im Abgründigen rührend, im geistigen Diebstahl naiv. So rätselhaft wie die pedantisch gestückelten Blätter ist letztlich seine Zwangsvorstellung. Einem Außenseiter wie Henry Darger ist mit Gesellschaft nicht zu helfen. Morton, Paul und Eugene – man braucht sie nicht. Aber die sechzehn Kölner Motive Henry Dargers sind eine Reise wert. Obsession: Morton Bartlett, Eugene von Bruenchenheim, Henry Darger, Paul Humphrey. Kölnischer Kunstverein; bis 23. 12. 1999. Katalog (hrsg. von Claudia Dichter, Susanne Zander und Udo Kittelmann), 128 S., DuMont, 38 DM, im Buchhandel 48 DM

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