piwik no script img

Die Mitte des Mainstreams

■  Die Pet Shop Boys zelebrierten in der Arena den Glamour des Pop-Alltags

René Sachse kommt aus 46325 Borken, Doktorskamp 56. Das liegt im Münsterland, in der Nähe von Dorsten, Bocholt und Bottrop, den Städten also, die früher auf den Ortsschildkärtchen im Verkehrszeichen-Memory abgebildet waren. Bekannt geworden ist Sachse allerdings, weil er die Korrespondenz für den Forever!-Fanclub der Pet Shop Boys in Deutschland erledigt. Bei ihm kann man sich als Mitglied schriftlich beraten lassen oder Merchandise-Artikel mit zehnprozentiger Ermäßigung bestellen. Schwarze Tassen mit orangerot aufgedrucktem P, S und B zum Beispiel. Im Konzert kosten sie 20 Mark. Ein Verkaufsschlager sind sie nicht – wer wollte auch drei Stunden in einer ausverkauften Arena zwischen einigen tausend Leuten mit einem Kaffeepott in der Hand herumstehen, während Songs wie „West End Girl“ oder „New York City“ über die Bühne donnern?

Ansonsten sind die Fans der Pet Shop Boys in etwa die Mitte vom Mainstream. Es gibt dicke Männer in rosa Jean-Pascale-Sweatshirts, die in den rausgewachsenen Dauerwellen ihrer Frauen herumwuscheln, und ein paar Häuflein Schwule gibt es auch – irgendwo hinten steht eine Fraktion Lederbärchen mit Schnauzbart, weiter vorne stehen knackige Skinheads in Fred-Perry-Pullundern. So wartet man eine gute Stunde. Aus den Boxen dudelt der übliche langweilige TripHop-Kaufhaussound, ein paar junge Leute fallen um und werden hinausgetragen, ein paar Sachsen trinken Sekt aus Plastikkelchen, ein paar Schwaben waren schon letzte Woche bei Iggy Pop und wollen jetzt mal bei „Opportunities“ die Zeile „let's make lots of money“ mitsingen. Alles gute Voraussetzungen für einen freundlich-entspannten Sonntagabend.

Auch den Pet Shop Boys steht der Sinn heutzutage mehr nach Entertainment mit Bodenhaftung. Abgesehen von den seltsamen blondierten Tulpenstengelperücken sehen sie so grau und normal aus wie ihr Publikum. Chris Lowe trägt Sonnenbrille, fingert unbewegt an seinem Computer herum und winkt zum Abschied doch liebvoll wie Lady Di. Wenn Neil Tennant singt, klingt es zwar nach Romy Haag und Cabaret, aber zur Mitte des Konzerts kann er sich ebensogut eine Akustikgitarre umschnallen und mit einem Gruß an die Kelly-Family „You only tell me you love me when you're drunk“ anstimmen. Dann wird die Boy-Ästhetik zur Boyscout-Ästhetik. Selbst die vier schwarzen Backing-Sänger und eine unglaublich stimmmächtige Soul-Diva schwingen ohne große Probleme zwischen Gospelchor, HipHop-Tanztheater und Muppets-Show hin und her. Das ist der Glam des Popalltags, Baby!

Vor ein paar Jahren noch waren die Konzerte der Pet Shop Boys einigermaßen exaltierte Galaauftritte, eine Art Disko-Operettenzauber, zu dem auch Gaultier gut die Bühnenkostüme hätte nähen können. Opulent, ironisch und sehr, sehr camp.

Mittlerweile ist das Elektronikduo aber schon seit 15 Jahren am Start, das Repertoire besteht aus annähernd zwei Dutzend Hits. Da kann man schon einmal auf allzu viel Schnickschnack verzichten, sich auch live zurücklehnen und einfach das Programm abspulen – die Karaokestimmung stellt sich ja praktisch von selbst ein. Dafür bildet wiederum die reduzierte Bühne aus verstrebten Zackenelementen, die die Architektin Zaha Hadid entworfen hat, eine denkbar gut geeignete Kulisse. Je heller die Beleuchtung auf den weißen Flächen blitzt, desto nachhaltiger brennt sich das Lichterspiel auf der eigenen Netzhaut ein – Psychedelik auf höchstem technischem Niveau.

Tatsächlich braucht es keine zwei Songs, damit in Berlin aus tristen Durchschnittsbürgern frenetisch ravende Partygänger werden. So geht es sonst eher am Rosenmontag in Kölle zu. Bei „West End Girls“ bricht eine Mitklatschorgie los, als hätte man das Publikum komplett in das Queen-Video zu „Radio Ga Ga“ gezappt.

Zweieinhalb Stunden später sind ein Doppelalbum Greatest Hits, ein virtuelles Duett mit der verstorbenen Sixties-Ikone Dusty Springfield und fast die gesamte aktuelle „Nightlife“-LP an einem vorbeigezogen. Wer mitsingen konnte, hatte seinen Spaß. So feiern Mehrheiten. Harald Fricke

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen