: Jetzt geht's looos: Die Bundesliga boomt sich in die 33. Spielzeit. Zuschauer, TV-Zeiten, Etats und Transfersummen explodieren beim neuen Millionenspiel. Hoffentlich auch die Spieler. Heute abend startet die Wirtschaftsbranche Fußball mit d
Jetzt geht's looos: Die Bundesliga boomt sich in die 33. Spielzeit. Zuschauer, TV-Zeiten, Etats und Transfersummen explodieren beim neuen Millionenspiel. Hoffentlich auch die Spieler. Heute abend startet die Wirtschaftsbranche Fußball mit drei Begegnungen in die Rekordsaison. Gesamtumsatz der Treter-Zunft: rund eine halbe Milliarde Mark.
Der Ball wird immer runder
Früher, als die Bälle noch aus richtigem Leder waren und Altvordere wie Ernst Huberty von der Liga berichteten, sah man die Dinge noch sehr streng: Höchstens vier Begegnungen wurden in der Samstag-Sportschau in Ausschnitten gezeigt; und im Radio wurde prinzipiell erst ab Halbzeit zwei übertragen. Ob ein Länderspiel in der Glotze kam, erfuhren die bangenden Fans oft erst Minuten vor dem Anpfiff, und nicht selten mit negativem Bescheid. Denn jede mediale Minute Fußball, so die Angst der Vereine, halte den Fan vom leibhaftigen Stadionbesuch ab – eine ebenso unumstößliche wie grundfalsche Einschätzung.
Seit einigen Jahren wird TV- Fußball nun mit hyperinflationärer Tendenz gezeigt, jeder Tag ein Fußballtag. Montags „Topspiel“ der 2. Liga, DiMiDo Europapokal und Länderspiele. Und an den drei Wochenendtagen wird die Bundesliga fernsehoptimierend gesplittet. Frappierend: Die Stadien werden trotzdem immer voller.
Auch die fußballose Zeit gibt es nicht mehr. Die Sommerpause ist aufgefüllt mit neuen UIC-, Super-, Fuji-Cups und anderen Show- und Prestigeturnieren ohne sportlichen Wert – aber live in der Glotze. Selbst die ARD überträgt belanglose Freundschaftsspiele zur besten Sendezeit. Groteske Folge: Zuschauerboom ohne Ende. 1994/95 gab es schon Rekordbesuch, in dieser Saison wird mit fast 30.000 Fans pro Begegnung eine neue Bestmarke erwartet. Lautern, Dortmund und Freiburg wissen ihre Stadien schon heute durch Dauerkarten ausverkauft.
Fußball in Absurdistan? Gibt es keine Übersättigung? Ist aus dem Recht auf Torrausch kollektive Sucht geworden?
Der Ball wird immer runder, obwohl die Kluft zwischen Schein und Wirklichkeit weiter wächst. Biederste Balltreter werden zu Megastars hochgefeatured. Ein normaler Bundesligakick wird heute mit zwölf Kameras so drollig zu einem bunt gemixten Show- Ereignis hochgejazzt, daß ein Besuch vor Ort zwangsläufig grottenlangweilig sein müßte. Aber die Menschen gehen trotzdem ins Stadion – allesamt Masochisten?
Der Zuschauerboom bewirkt, daß die meisten Spiele vor vollen Rängen Festveranstaltungen mit eigenem Erlebnischarakter fern des Sportlichen sind. Eine Kettenreaktion: Die Leute feiern sich als berauschte Kulisse fürs TV gegenseitig, da ist die Qualität des Spieles nur noch zweitrangig. Hauptsache, das eigene Team gewinnt irgendwie. Und wenn nicht, dann eben bis in zwei Wochen. Indessen gilt: Es gehen nicht so sehr immer neue Leute zum Fußball, sondern die gleichen immer öfter. Der Boom wird vor allem durch exorbitante Steigerungen beim Dauerkartenverkauf erreicht.
Rekorde wohin man schaut: Bundesligavereine sind trotz langfristiger Millionenschulden florierende Unternehmen, die Umsätze zwischen 15 und 50 Millionen Mark pro Club und Jahr machen. Die angestellten Fußwerker mit Jahresgagen von 200.000 bis 2,5 Millionen wechseln zu immer kühneren Summen – bis zu zehn Millionen für zwei Beine (Heiko Herrlich, von Gladbach nach Dortmund). Schon ein guter Reservebank-Mann ist unter einer Million „Ablösesumme“ nicht zu haben. Vor zehn Jahren noch kamen die Mittel fast nur aus Kartenverkäufen. Heute gilt die Drittelregel: Neben den Eintrittserlösen alimentieren TV- und Lizenzeinnahmen (Europapokal) sowie Trikotwerbung und Fanartikel die Budgets.
Erstmals wird es 1995/96 für einen Sieg drei statt zwei Punkte geben. Das soll der Offensive dienen. Allerdings: Bei der letzten WM hätte mit der alten Zweipunktregel keine Tabelle anders ausgesehen, und auch die vergangene Bundesligasaison hätte exakt das gleiche Ergebnis gebracht. Zudem zeigen schon die ersten Zweitligaspieltage, daß die Neuerung keineswegs die Angriffslust steigert. Der Jubel über Unentschieden belegt, daß das Nichtverlieren Fußballers Dogma geblieben ist.
Viele Teams wollen jetzt, das Ausland zum Vorbild, ohne antiquierten Libero spielen, dafür mit flexibler raumdeckender Abwehrkette. Das ist, ketzerte die Süddeutsche, als würde den Kickern der plötzliche Umstieg von Schreibmaschine und Tipp-Ex zu DOS abverlangt. Hintergrund: Der germanische Ballermann gilt international als mäßig (spiel-)intelligent, verbeißt sich dafür gern („deutsche Tugenden“) im mannhaften Zweikampf in Gegenspielers Wade. Umstellungsprobleme könnten zu unterhaltsamen Strafraumtohuwabohus führen.
Eine sportliche Prognose der Saison 95/96 fällt nicht schwer: München und Dortmund, die unersättlichen Hauptaufrüster mit Spielermaterial, sind ohne Chance. Das liegt vor allem am beidseitigen Achillessehnenriß des Neubayern J. Klinsmann im ersten Spiel (Doppelzimmer mit L. Matthäus nach dessen Stimmbandriß) und bei den Dortmunder Geld-Schwarzen an H. Herrlichs lebenslanger Sperre wegen fortgesetzter Arbeitsverweigerung: „Ich spiele nie mehr für irgendwelche Borussen.“
Der KFC Uerdingen spielt nach der Loslösung von Pillengigant Bayer befreit auf wie nie und wird locker Dritter. Davor landen nur noch Aufsteiger St. Pauli (trotz eines Spielers Scharping) und Favorit Freiburg als neuer Meister (trotz eines Spielers Kohl). Absteigen dürfen endlich der HSV, Köln und endlich mal wieder Schalke.
Ach ja, und der Berti: Er wird nach der Blamage bei der Europameisterschaft 96 wieder DFB-Jugendtrainer, was augenblicklich einen Fußball-Boykott aller unter 18jährigen bewirkt. Der Fußballstandort Deutschland wird somit aufgegeben, die 33. Bundesligasaison geht als letzte in die Annalen ein. Bernd Müllender
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