: Der große Berg des kleinen Elefanten
Der Italiener Marco Pantani gewann die 10. Etappe der 82. Tour de France nach L'Alpe d'Huez. Spitzenreiter Miguel Induráin dominiert die Konkurrenz nach Belieben ■ Von Matti Lieske
Berlin (taz) – Im Jahre 1952 hatten sich die für ihre notorische Grausamkeit gegenüber den Fahrern berüchtigten Organisatoren der Tour de France etwas besonders Perfides ausgedacht. Zum erstenmal nahmen sie den Anstieg nach L'Alpe d'Huez ins Programm. 13,7 Kilometer lang, eine durchschnittliche Steigung von 8,3 Prozent, gespickt mit 21 Haarnadelkurven. Zu bewältigen am Ende einer langen Etappe über diverse Alpenpässe, die den Pedaleuren schon vorher fast alle Kraft aus den Muskeln gesaugt hatten. Skeptiker bezweifelten, daß überhaupt ein Fahrer in L'Alpe d'Huez auftauchen würde, doch dann stampfte Fausto Coppi im Eilzugtempo den Berg hinauf, fuhr die gesamte Konkurrenz in Grund und Boden, und Tour-Chef Felix Levitán meinte in seinen Augen gar „den kriminellen Instinkt des Tigers“ erkannt zu haben. Seit diesem zoologischen Spektakel erster Güte ist L'Alpe d'Huez ein, außer bei den Radprofis, äußerst beliebtes Etappenziel, wurde als „Berg der Holländer“ zum Wallfahrtsort niederländischer Radsportfans und tauchte schon mehr als ein Dutzend mal im Tour-Kalender auf.
Ein krimineller Tiger war in diesem Jahr nicht in Sicht, dafür aber ein leichtgewichtiger Elefant. Gerade mal 56 Kilo bringt Marco Pantani auf die Waage, dennoch strotzt der Bergspezialist vor Kraft. „Auf dem Ergometer schafft er 400 Watt“, schwärmt Davide Boifava, sein sportlicher Leiter beim Carrera-Team. Auf die Schulter hat sich der schmächtige Pantani ein kleines Teufelchen tätowieren lassen, eine Hommage an sein Vorbild Claudio Chiappucci, den sie in Italien „Il Diavolo“ nennen. Der machte bei den großen Radrundfahrten der vergangenen Jahr unermüdlich die Berge unsicher und sorgte mit seinen permanenten Ausreißversuchen für Spannung.
Inzwischen hat der 25jährige Pantani seinem Idol und Teamkollegen jedoch den Rang abgelaufen, auch wenn sein Ehrenname nicht ganz so glanzvoll klingt wie der Chiappuccis. „Elefantino“ wird Pantani wegen seiner großen Ohren, die er neuerdings noch durch seinen kahlgeschorenen Schädel betont, im Fahrerfeld gerufen. Bereits im letzten Jahr hatte er auf den Bergetappen bei Giro und Tour für Furore gesorgt, verpaßte jedoch die diesjährige Italienrundfahrt, weil er im Mai beim Training von einem Lastwagen angefahren wurde und sich am Knie verletzte.
Auf dem Weg nach L'Alpe d'Huez bewies er, daß er vollständig wieder hergestellt ist. Kaum waren die ersten Kehren der Steigung erreicht, erhob er sich plötzlich aus dem Sattel, begann wie besessen in die Pedale zu treten und schoß förmlich aus der Gruppe um den in der Gesamtwertung führenden Miguel Induráin heraus, wobei er auch seinen Boss Chiappucci schnöde zurückließ. Der Mann im gelben Trikot blieb gelassen und ließ Pantani, der im Gesamtklassement so weit zurücklag, daß er ihm nicht gefährlich werden konnte, ziehen. Im Stile eines wiedergeborenen Coppi raste der Italiener an den vor ihm liegenden Fahrern vorbei und strebte dann allein dem Ziel entgegen. Ohne Probleme kämpfte er sich durch das von den Fahrern gefürchtete dichte Spalier der Fans und bekam erst in der letzten Kurve Schwierigkeiten, als er fast geradeaus zum Pressezentrum gefahren wäre, ihm ein Gendarm aber gerade noch den richtigen Weg zum Ziel weisen konnte.
Erst auf den letzten Kilometern verschärfte auch Induráin das Tempo, konnte den Sieg Pantanis allerdings nicht mehr gefährden. Dafür erteilte er jedoch den einstigen Mitfavoriten eine weitere Lektion. Der Russe Jewgeni Berzin hatte schon auf der ersten Hälfte der Etappe demoralisiert aufgegeben, und der Rückstand des Schweizers Tony Rominger wuchs auf über acht Minuten an. Nur Romingers Landsmann Alex Zülle und der Däne Bjarne Rijs vermochten Induráin zu folgen. „Ich bin der Gewinner der letzten beiden Tage“, zog der Spanier ein nüchternes Fazit.
Drei zweite Plätze und ein Sieg sind Induráins Bilanz der Etappen 7 bis 10, und die Taktik, sich beim Rennen gegen die Uhr ein wenig zu schonen, um in den Alpen mehr Kraft zu haben, ist voll aufgegangen. Beim Zeitfahren war der 30jährige mit einer kleineren Übersetzung als gewöhnlich gefahren und sagte hinterher: „Es hat kaum Kraft gekostet. Die meiste Zeit habe ich praktisch ins Leere getreten.“ Gewonnen hat er natürlich trotzdem, und nach seiner beeindruckenden Vorstellung in den Alpen zweifelt kaum jemand an seinem fünften Toursieg in Folge. „Nach dem, was wir in den letzten Tagen gesehen haben, wird der Zweite in Paris 20 Minuten Rückstand auf Induráin haben“, prophezeit Sandro Quintarelli, Direktor von Chiappucci und Pantani beim Carerra-Team, und fügt vorsichtshalber hinzu. „Ich bin nicht verrückt, ich wiederhole es, 20 Minuten.“ Und auch Induráins Teamchef José Miguel Echávarri mag Alex Zülle nicht als echte Gefahr für seinen Champion sehen. „Wer ist Miguels Rivale“, fragt er und gibt die Antwort selbst: „Miguels einziger Rivale ist die Tour.“
Gesamtwertung: 1. Induráin 42:32:58 Stunden; 2. Zülle 2:27 Min. zurück; 3. Rijs 6:00; 4. Rominger 8:19; 5. Gotti 8:20; 6. Jalabert 9:16; 7. Pantani 12:38
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