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Die Vertriebenen von Srebrenica

■ In Tuzla kommen die Menschen an, die aus der von den bosnischen Serben eroberten UN-Schutzzone fliehen können. Tagelang haben sie nichts gegessen, die Versorgung war längst zusammengebrochen

Tuzla (rtr) – Zerlumpt, hungrig, niedergeschlagen und völlig verängstigt kamen die Vertriebenen aus der von Serben eroberten UNO-Schutzzone Srebrenica gestern in Tuzla an. Hunderte Frauen, Kinder, Kranke und alte Männer – sie alle hatten die Eroberer mit Bussen aus der nun „serbischen Stadt“ mit Bussen abtransportiert und mitten in der Nacht im Niemandsland ausgesetzt, von wo aus sie in einem zweistündigen Marsch von Regierungstruppen kontrolliertes Gebiet erreichten.

Von dort ging es wieder mit Bussen nach Tuzla. Doch in der Stadt werden sie zunächst nicht versorgt, weil sich UNO und Regierung nicht einigen können, wer für ihre Aufnahme zuständig ist. Schließlich erbarmt sich die Weltorganisation und nimmt die völlig erschöpften Menschen auf.

Freiwillig hätten die Menschen die Enklave verlassen wollen, teilten die Serben mit, nachdem sie Srebrenica am Dienstag erobert und die gesamte Enklave am Mittwoch unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Und großmütig hatte ihr Oberbefehlshaber General Ratko Mladić erklärt, er werde sich einer „Evakuierung“ nicht entgegenstellen und die Menschen mit Bussen aus ihrem Zufluchtsort Potočari abtransportieren lassen. Nicht einmal das scheint zu stimmen. Die 24jährige Zulfa Redzić jedenfalls liefert nach ihrer Ankunft in Tuzla eine andere Version: Viele hätten die Soldaten erst bestechen müssen, um in die Busse gelassen zu werden.

Verzweifelt berichten die, die aus Srebrenica vertrieben wurden, nach ihrer Ankunft in Tuzla über die lange Ungewißheit vor dem Fall der UNO-Schutzzone. „Sieben Tage haben wir im Keller verbracht“, sagt die 35jährige Zumerta und drückt ihre beiden kleinen Söhne an ihren abgezehrten Körper. „Zu essen hatten wir nichts“, fügt sie lakonisch hinzu, als sei das eine Selbstverständlichkeit.

Die einzige Hoffnung waren oft die niederländischen UNO-Soldaten, die ihre Essensrationen mit den Einwohnern teilten. Aber auch die hatten nicht viel abzugeben. Denn nicht nur die Hilfskonvois für die Bevölkerung, auch die Versorgung der UNO-Truppen hatten die Serben immer wieder blockiert. Nach Angaben aus UNO-Kreisen reichten die Rationen der Niederländer für nicht einmal mehr einen Tag.

Für manche der Vertriebenen bedeutete die Ankunft in Tuzla auch ein Wiedersehen mit ihren Angehörigen. Denn bereits im Jahr 1993 hatten viele Menschen die von Serben belagerte Enklave in Richtung Tuzla verlassen. „Ich habe meine Frau seit zwei Jahren nicht gesehen“, berichtet der 27jährige Savahid Begović, nachdem er sie unter den ausgemergelten Menschen ausgemacht und unter Freudentränen umarmt hatte. „Ich weiß nicht, wie wir uns jetzt weiter durchschlagen sollen. Aber zumindest sind wir jetzt wieder zusammen“, sagt er.

Die Menschen, die gestern in Tuzla aus den Bussen taumelten, werden nicht die letzten sein, die in der UN-Schutzzone ankommen. Die Mitarbeiter der Hilfsorganisationen bereiten sich auf die Ankunft weiterer Busse vor.

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