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■ NormalzeitUnser Ausland!!!

Unser Ausland – love it or leave it! Renée Zucker erwähnt in ihrem Buch „Berlin ist anderswo“ zum Beispiel einen „Westfalen“, der seine Frau über die zwei Theoretiker der Arbeiterbewegung auf dem Marx-Engels-Forum aufklärte: „Das also waren die beiden berühmten Russen.“ Schwaben lassen sich hier gerne schocken – und besuchen die Prenzlauer-Berg-Wohnquartiere: „Was? da wohnen noch Leute drin?“ fragen sie entsetzt. Oder beim Anblick des Tacheles: „So was finanziert der Berliner Senat?“

Die Österreicher und Schweizer gruseln sich dagegen am liebsten auf Fahrten durch Hellersdorf oder die Frankfurter Allee runter und lassen sich dabei vom West-Stadtführer beziehungsweise Ost-Stadtbilderklärer (beide sind jetzt im „Berlin Guide e. V.“ vereinigt) Geschichten über den Sozialismus und die Stasi erzählen. Einen Abstecher zum sowjetischen Ehrenmal nach Treptow lehnen Vergnügungsreisegruppen aus Westdeutschland meist ab: „Da mußten wir zu DDR-Zeiten immer hin, das war damals Pflicht!“ Hat der Berlintrip aber eine gleichsam staatsmännische Funktion, so wie beim Thyssen-Vorstand, dann gehört Treptow nach wie vor zum Pflichtprogramm: „Die Russen hatten auch enorme Opfer zu beklagen“, wie Doktor Sowieso dann erläutert.

Eine französische Reisegruppe fragt am Reichstag: „Warum hat man den bloß so nahe an die Mauer gebaut?“ Überhaupt geht es meist um das Aufsuchen von übriggebliebenen Spuren der Teilung. Und je mehr verschwinden, desto zurücker gehen auch die Zahlen der Berlinbesucher einschließlich der Hotelbuchungen, weswegen das Grand Hotel Maritim mit acht Millionen Miesen gerade aufgab. Eine rotchinesische Gruppe hielt den nahezu vollständigen Abriß der „world famous Berlin Wall“ – analog zu ihrer berühmten „Great Wall“, nach der sogar Computer benannt werden – gar für eine kulturrevolutionäre Missetat ersten Ranges. Aber auch sie fanden dann Gefallen an dem beliebten Ausländer-Spiel „Sind wir jetzt noch im Westen oder schon im Osten“.

Selbst Westdeutsche halten übrigens beim Überqueren der Spree den Fluß wahlweise für Rhein, Main, Elbe oder Mosel. Der Reichstag wird meist mit Hitler in Zusammenhang gebracht. Eine Ausnahme bilden bulgarische Reisegruppen, die bereits in der Schule alles über die heldenhafte Verteidigung ihres ersten Ministerpräsidenten Dimitroff lernten, den die Nazis der Reichstagsbrandstiftung angeklagt hatten. Auf Nummer Sicher ging eine Bundeswehr-Reisegruppe: Sie wies den Guide kurzerhand an, bei der Führung „die Nazizeit“ auszulassen. Im Museum wollten sie jedoch unbedingt „Den Mann mit dem Stahlhelm“ von Rembrandt sehen. Akademische Reisegruppen wollen nicht mit „Daten, Fakten und Zahlen“ abgespeist werden.

In norddeutschen und schwedischen Männerreisegruppen kommt vor allem bei den Prostituierten an der Straße des 17.Juni und in der Oranienburger Straße Freude auf. Die Ostdeutschen mögen am liebsten gepflegte Gärten und Parkanlagen; wenn sie ein oder zwei Stunden zur freien Verfügung haben, verlangen sie genaue Anweisungen. Wieder zurück fragen sie den Guide: „Sind Sie unser Bus?“ Oder: „Sind Sie der Führer?“ Meistens bekommen sie zur Antwort: „Nein, der Führer ist tot, ich bin Eva Braun!“ Zum Führerbunker zieht es vor allem die Amerikaner, die dann anschließend gerne darüber reden, daß und wo Hitler möglicherweise noch lebt. Auch wenn der Guide die Namen „Göring“ und „Goebbels“ erwähnt, wird es munter im Bus.

Eine Gruppe aus Simbabwe war vor allem von einem parkenden Mercedes vor ihrem Hotel beeindruckt: „Der stand da drei Tage und wurde kein einziges Mal gefahren!“ Einer Filipino- Familie gefielen besonders die barschen, aber deutlich deutschen Lautsprecher-Durchsagen in den U-Bahnhöfen: „Zu-rückbleiben!“

Auch eine thailändische Touristengruppe hielt sich am liebsten in der U-Bahn auf. Dort erfreuten sie speziell die leichtbekleideten deutschen Frauen, die sich an den Haltestangen festhielten, wobei man ihre Achselhaare sehen konnte: „Das war für die wie Porno!“ berichtet ihr Guide, für den Touristen aus Fernost „fast immer“ interessant sind. Gelangweilt ist er dagegen von Westdeutschen: „Die bestehen beispielsweise oft darauf, daß ich die Gedächtniskirche ,Lippenstift und Puderdose‘, den Fernsehturm ,Telespargel‘ und die Kongreßhalle ,Schwangere Auster‘ nenne, der verpackte Reichstag soll jetzt ,Kohlroulade‘ heißen. Sehr komisch!“ Helmut Höge

wird fortgesetzt

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