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Alte Löwen verlassen die Herde

Heute trifft sich auf Kampnagel ein letztes Mal die „Schamlos“-Familie – ohne Ulrich Wildgruber  ■ Von Ulrich Waller

Die erste Begegnung ist ein Schock. In einer Nachmittagsvorstellung schlägt ein mit Schuhcreme angemalter Schwarzer auf eine kleine weiße Frau ein. Es ist Othello, der Mann ist rasend vor Eifersucht, und die Szene steht bei Shakespeare. Aber die Art und Weise, wie das abläuft, sprengt alle Grenzen, die ich bis dahin auf dem Theater kannte. Ich denke, der bringt sie wirklich um. Als Desdemona dann beim Applaus wieder auf der Bühne ist, bin ich richtig erleichtert. Das alles passierte bei Zadeks Othello beim Berliner Theatertreffen 1978.

Die zweite Begegnung ist leiser. In einem italienischen Kellerlokal am Hansaplatz erklärt der Regisseur von Drei Schwestern zu morgendlicher Stunde dem Hauptliebespaar des Stücks, Werschinin und Mascha – gespielt von Ulrich Wildgruber und Hildegard Schmahl –, dass er sich den Werschinin zerstörter vorstellt. Der Regisseur zeichnet ihn als Opfer und damit eigentlich ein Porträt seiner selbst. Wildgruber sagt: „Was soll ich da spielen? Das kann ich nicht!“ Und geht.

Später, im November 1990 in der Hamburger Kampnagelfabrik: Wildgruber liest zum ersten Mal einen Text von Frank Göhre und mir, den Text zu der Sit-Com „Schamlos“, die den Prozess der deutschen Vereinigung über zehn Jahre begleiten soll. Und wie er ihn liest. Er bläst ihn auf, schmeißt ihn durch die Luft, lässt ihn fast zerplatzen, um ihn dann wieder ganz liebevoll an sich zu nehmen. Zum ersten Mal hören wir, was wir da geschrieben haben.

Im Mai 1997 laufen wir nach einer Vorstellung von Zadeks Kirschgarten zusammen den Ring in Wien entlang. Wildgruber ist deprimiert, verunsichert wegen seiner Zukunft. „Ich bin ein Auslaufmo dell“, ruft er in die Wiener Nacht. Ich schicke ihm am nächsten Tag zum dritten Mal den Text von Be-cketts Das letzte Band und schlage den 10. Juni als ersten Probentag vor. Bisher hat er immer abgelehnt: „Dafür bin ich noch zu jung.“ Ohne dass wir noch einmal gesprochen hätten, ist Wildgruber am 10. Juni im Theater.

Er fängt an zu erzählen, wie er das gerne gemacht hat bei jeder Probe, um nicht auf die Bühne zu müssen. Und unmerklich wird dieses Erzählen, dieses Beschreiben seines ganzen Schauspielerlebens ein Teil der Probenarbeit. Nur dass wir das nicht auf Band aufnehmen, wie Krapp. Als wir im Heute angekommen sind, geht er auf die Bühne.

Am 30. November 1999 sitzen wir morgens in der Kampnagelfabrik und wollen – wie jedesmal – besprechen, was im letzten Jahr war, und den Text zu „Schamlos 10“ (Heimatabend '99) lesen. Ich weiß, dass er verschwunden ist, ich weiß, dass er einen Brief hinterlassen hat, aber ich will es nicht glauben. Ich denke, jeden Moment kommt er rein und hat die grandioseste und zugleich absur-deste Geschichte erlebt. Er kommt nicht.

Am Abend sitze ich in einem Schneideraum des NDR. Ich muss noch ein Bild einfügen in die Fernsehaufzeichnung einer Lesung, die Wildgruber für uns gemacht hat. Es ist das Bild der Tochter von Matthias Claudius, der er nach ihrem frühen Tod ein anrührendes Gedicht geschrieben hat. Da erreicht mich der Anruf, dass Wildgruber – der da auf dem Monitor vor mir so liebevoll die Worte von Claudius streichelt, als müsste er von seinem eigenen Kind Abschied nehmen –, dass Wildgruber tot ist.

Und mir fällt die Geschichte ein, die er mir vor ein paar Wochen erzählt hat: dass ihm die Zähne anfangen auszufallen und er sich vorkomme wie ein altgewordener Löwe, ohne den richtigen Biss. Und: Alte Löwen verlassen die Herde und gehen allein in den Busch. Und natürlich hat er die Geschichte wieder mit einem blitzenden Auge erzählt und mich zum Lachen gebracht.

Es war ihm ernst. Wildgruber, einer der letzten Löwen auf dem deutschen Theater, kommt nicht mehr. Es ist öder geworden und leerer.

„Heimatabend '99“, heute, 20.30 Uhr, k1, als Lesung (Horst Schroth spricht den Text von Ulrich Wildgruber)

Ulrich Waller ist Autor, Regisseur und zusammen mit Ulrich Tukur Intendant der Hamburger Kammerspiele

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