: Tabula-rasa-Politik muss gestoppt werden
betr.: „Lernen von Miloševic“ von Sonia Mikich, taz vom 24. 11. 99, „Russland ist und bleibt immer 'wer‘“, Leserbrief von Sergej Krylow, Russischer Botschafter, taz vom 3. 12. 99
[. . .] Sonia Mikich – eine der wenigen Stimmen in einem Meer von Schweigen und Ignoranz, die sich traut, einen kleidungslosen Kaiser „nackt“ zu nennen. Und deshalb wohl auch die schnelle Reaktion des russischen Botschafters, der nach über zweimonatigen Flächenbombardements, nach tausenden von toten Zivilisten, nach der Vertreibung von Hunderttausenden allen Ernstes behauptet, die russische Generalität verfolge Terroristenhaufen.
Das wäre so, als würde die spanische Regierung als Antwort auf den ETA-Terror San Sebastián schleifen und Großbritannien angesichts erneuten IRA-Terrorismus die katholischen Teile Belfasts zerbomben und Hunderttausende in die Republik Irland treiben.
Der russische Bürgerrechtler Kowaljow, der sich vehement gegen jeden Terrorismus ausspricht, bezeichnete hier in Berlin diesen Krieg als „Vernichtungskrieg“. Geführt mit Massenvernichtungswaffen, wie auf der gleichen Veranstaltung der ARD-Korrespondent Roth hervorhob; und er ergänzte, dass „dieser zweite Krieg um vieles fürchterlicher (sei) als der erste“.
[. . .] Und Kowaljow weist darauf hin, dass Putin und wichtige Mitarbeiter seines Stabes aus dem KGB-FSB stammen. Dieser Krieg soll nicht nur im dritten Versuch seit Stalins Deportationen das „Tschetschenienproblem endgültig lösen“, er zielt in Russland auch auf die Freiheit in den Köpfen der Menschen.
Die Art und Weise der russischen Kriegführung beabsichtigt offensichtlich, flächendeckenden Vernichtungs- und Vertreibungsterror gegenüber Zivilisten auszuüben, um diese von den Verteidigern zu trennen, die dann zerbombt werden sollen. Der Tschetschenienbeauftragte Jelzins, Koschman, spricht offen davon, Grosny an anderer Stelle wieder aufzubauen, und das Vernichtungsultimatum an die tausende Einwohner Grosnys stammt aus dem Arsenal von Menschenverachtern.
Die duldsame Haltung des Westens dieser Barbarei gegenüber ist empörend und gefährlich. Das deutsche Außenministerium wirbt für seine neue Politik mit einem Flyer mit dem Picassogemälde „Guernica“ – der ersten Stadt, die man mit Bombenterror zu vernichten versuchte. Nun passiert dies seit über zwei Monaten in Tschetschenien, werden Menschen- und Kriegsrechte, Konventionen aller Art (siehe neuste Bericht von ai, Human Rights Watch, médecins du monde etc.) mit Füßen getreten – und die Reaktionen darauf papierene Protestchen, und in der Öffentlichkeit fast „ein gewolltes, aggressives Nichtwissenwollen“ (Hans-Christoph Buch). Appeasement – das weiß man mittlerweile besser in Tschechien („die russische Armee hat im Kaukasus nichts zu suchen.“ Václav Havel), Polen, den baltischen Staaten (der Präsident Estlands weigerte sich, am OSZE-Gipfel an einem Tisch mit Jelzin zu sitzen, sein Ministerpräsident warf der russischen Regierung stalinistische Politik vor), Frankreich (Intellektuelle initiierten Ende September einen europäischen Aufruf „Stoppt die Massaker“), Appeasement bewirkt das Gegenteil von dem, was es zu erreichen vorgibt.
Der Ring um Grosny ist fast geschlossen, Reporter vor Ort melden noch zehntausende Bewohner in der Stadt, die seit Monaten ohne Wasser, Elektrizität, Krankenhäuser unter Dauerbeschuss in Ruinen dahinvegetieren. Es scheint fast so, als ende dieses fürchterliche Jahrhundert, wie es begann: mit Massenvernichtung. Am Anfang der Genozid an den Armeniern, jetzt nach Stalin, Hitler, Ruanda, dem Balkan, Osttimor die Tschetschenen.
Die Gesellschaft für bedrohte Völker und die Bundeskoordination der über 100 deutschen Unesco-Projektschulen rufen für den 16. 12. 99 zwischen 17 und 18 Uhr in vielen deutschen Städen und Gemeinden zu Mahnwachen auf (Zentrale Veranstaltung in Berlin: Brandenburger Tor). Ein sofortiger Waffenstillstand ist unabdingbar, um den Menschen helfen zu können und politische Lösungsmöglichkeiten für die Probleme des Nordkaukasus zu finden. Die russische Politik der Tabula rasa muss gestoppt werden.
Steffen Noack, UNESCO-Projektschulkoordination an der
Carl-Zeiss-Oberschule, Berlin
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen