: Wir ahnten ja nichts von Eurem Elend
betr.: „Wir waren beide Sektierer“, Interview mit Udo und Harald Wolf, taz vom 10. 12. 99
Lieber Udo, lieber Harald. Wir wussten es ja immer schon, dass wir, die Ossis, mit unserem DDR-ML-Horizont, ohne Euch Westlinke aufgeschmissen gewesen wären in der auf uns zurollenden komplexen Welt des westlichen Imperialismus. Aber welcher fast unmenschlichen Anstrenung Ihr Euch bei diesem Einführungskurs für Ossis in die politische Oberflächlichkeit des Westens aussetzen musstet und wie groß der Kulturschock für Euch war, wenn wir das gewusst hätten, hatten wir Euch das gern erspart.
Allerdings könnte frau ja erwarten, dass Ihr, als erfahrene Berufspolitiker, die Ihr Euch heute im PDS-Spektrum bewegt, in der Lage seid, einiges, was Ihr damals erlebt habt, nun qualitativ anders zu reflektieren, statt Euch noch nachträglich in Selbstmitleid zu ergehen. Aber bis heute ist Euch offensichtlich verborgen geblieben, dass beispielsweise die von Euch beklagten Küchentischstrukturen in der ehemaligen DDR über eine hohe soziale und politische Verbindlichkeit verfügten, die gerade in linken Strukturen im Westen oft eingefordert, aber nicht erbracht wurde beziehungsweise wird. 1989/90 erlebten wir eine aufregende Zeit. Das, was wir damals erstreiten wollten, eine sozialistische Perspektive, hat sich nicht erfüllt. Aber damals waren wir in Aufbruchstimmung und haben Tage und Nächte in diesem Haus der Demokratie verbracht und niemand brauchte uns dazu einzuschließen. Und wir waren offen, ja sogar froh für den westlinken Verstand, der mit gewichtigen Worten daherkam und uns zur Seite stehen wollte. Wir ahnten ja nichts von Eurem Elend. Und wenn das Ereignis mit dem Türzuschließen, welches nie stattgefunden hat, ein Bild für Eure Qualen angesichts der inakzeptablen „unterschiedlichen politischen Arbeitsweisen“ gewesen sein soll, dann ist es doch vor allem ein eindrucksvolles Bild für Eure exzentrische Unfähigkeit unterschiedliche Alltagserfahrungen nicht nur festzustellen, sondern auch zu akzeptieren. [...] Was manchem Politikercrack im Westen auch ganz gut tun würde. Vielleicht würde es Horizonte erweitern. [...] Judith Demba
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