: Der letzte Fundi
Die christliche Botschaft verträgt sich schlecht mit der konsensorientierten Gesellschaft und ihrer Kultur des Kompromisses. Wir sind peinlich berührt von dem Sektierertum Jesu Christi. Aber sollten wir sicherheitshalber nicht doch hinhören? Von Christian Semler
Hätten Sie diesen Herrn zum Weihnachtsfest ins „La Strada“ mitgenommen? Zu jener Feier, die die alternative Tageszeitung taz für ihre Mitarbeiter stets kurz vor den Festtagen ausrichtet? Bestimmt nicht! Denn er ist zwar liebenswürdig, sanft, kommunikativ, ein origineller Unterhalter (er redet fast nur in Gleichnissen). Und um die Weinvorräte braucht man sich keine Sorgen zu machen, wenn er kommt. Er kennt da einen Trick.
Aber leider erweist er sich immer wieder als notorischer Peinsack. Während die Fundis sich längst aus der taz (und von den Grünen ohnehin) verabschiedet haben, besteht er auf der nahen Apokalypse und fordert Umkehr – individuelle Umkehr noch dazu. Sicher, ein Typ mit Ausstrahlungskraft, aber humorlos, intolerant und immerzu auf dem Agitproptrip. Sammelt Jünger, als ob wir noch in den Siebziger- oder frühen Achtzigerjahren lebten. Redet von den letzten Dingen, während wir gerade damit beschäftigt sind, die vorletzten zu vergessen.
Wirklich, Herr Jesus Christus hat auf unserem Weihnachtsfest nichts verloren.
Ob er sich vielleicht unter die Obdachlosen gemischt hat, die uns in der S-Bahn mit ihren stereotypen Leidensgeschichten nerven, unter die „Haste mal ’ne Mark“-Figuren? Zuzutrauen wäre es ihm, denn zu den Marginalisierten hat er schon immer einen Hang gehabt. Kirchen würde er meiden, ebenso Kleriker. Das hat Fjodor Michailowitsch Dostojewski scharfsinnig erkannt, als er in der Legende, mit der Iwan Karamasow seinem frommen Bruder Aljoscha in den „Gebrüdern Karamasow“ provoziert, Jesus zum Gefangenen des Großinquisitors macht.
Jesus redet dort kein einziges Wort. Der Kirchenfürst aber erklärt den Erlöser zum Gesellschafts- und Staatsfeind Nummer eins, weil er die Menschen einer unerträglichen Freiheit, nämlich zwischen dem Guten und dem Bösen zu wählen, aussetzt. Das ist unmenschlich.Human ist es hingegen, den Wunsch der großen Menge nach Geborgenheit und Glück zu erfüllen. Durch eine aufgeklärte Elite. Diese Last nimmt die institutionalisierte Kirche auf sich und/oder die organisierte Arbeiterbewegung, die Brot an die Stelle der radikalen Freiheit setzt, sich für oder gegen Gott zu entscheiden. Kirche und Sozialismus – sie sind nach Dostojewski beide des Teufels.
Gewiss eine absurde Weltsicht, zumindest nach dem Untergang des Realsozialismus. Natürlich findet sich auch im modernen Sozialstaat elitärer Paternalismus, gut verpackt in der Rhetorik der Volkssouveränität. Metaphysische Bedürfnisse werden abgebogen, durch materielle Surrogate ersetzt. Aber die Uhr totalitärer Menschenverwaltung scheint abgelaufen, zumindest in unseren Breitengraden. Was am „Großinquisitor“ Dostojewskis auch heute fasziniert, wird in der Radikalität der Fragestellung deutlich. Entweder – oder, für oder gegen Gott. Es geht um das Christliche des Christentums.Wie verträgt sich eine Lebensweise, die sich für Glaube, Liebe und Hoffnung in Gott entschieden hat, mit der demokratischen politischen Kultur? Läuft sie den Anforderungen an den Staatsbürger zuwider, die zwar nirgendwo kodifiziert sind, von denen aber doch das Schicksal der demokratischen Institutionen abhängt? Wir können uns dieser Frage am besten nähern, wenn wir von einem alten republikanischen Ideal ausgehen, dem der Selbstachtung.
Selbstachtung muss von Selbstwertgefühl unterschieden werden. In letzterem irren wir uns fast stets, immer ist es zu hoch oder zu niedrig angesetzt. Es schwankt. Selbstachtung hingegen ist eine fest gegründete Haltung. Wenn wir uns selbst achten, folgen wir freiwillig Normen auch dann, wenn uns kein wachsames Augen beobachtet. Wir lesen nicht heimlich Briefe, die an unsere Frau oder an unseren Mann gerichtet sind. Falls wir als Politiker arbeiten, deklarieren wir Spenden auch dann, wenn uns keinerlei Gefahr der Aufdeckung droht. Wir wollen uns morgens beim Rasieren noch in den Spiegel sehen können, wie es der ehemalige Bundeskanzler so schön formuliert hat. Wir sind ichstark.
Selbstachtung hängt eng mit der Sorge um sich selbst zusammen. Sie entstammt dem Tugendkatalog, dem die Bürger der antiken Polis nachzuleben suchten. Sie ist Voraussetzung dafür, dass sich in einem modernen Staatswesen so etwas wie republikanische Gesinnung herausbildet.
Wie verhält sich Selbstachtung zu Demut, speziell zu christlicher Demut? Der Philosophiehistoriker Karl Löwith ist 1948, drei Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus, in einem brillanten Aufsatz der Frage nachgegangen, ob ein Christ gleichzeitig eine Gentleman sei könne, wobei er die Verhaltensweisen der Figur des „Gentleman“ eng mit denen des antiken griechischen Stadtbürgers verband.
Seine Antwort war eindeutig negativ. Der griechische Gentleman weiß um seinen Wert, spielt sich nicht auf, erniedrigt sich aber auch nicht. Er ist megalopsyches, also großherzig, gibt Geld für Projekte des Gemeinwohls, für Tempel, für den Schiffsbau. Er ist diskret, vermeidet Bloßstellung, folgt überall dem Ideal der Mäßigung. Er hat Manieren.
Die christliche Demut hingegen basiert geradezu auf der Verletzung des Prinzips der Selbstachtung. Sie ist ihrem Wesen nach Selbsterniedrigung. Denn sie folgt Christus, der sich unbegreiflicherweise als Gott so weit erniedrigt hat, Mensch zu werden und sich von den Menschen ans Kreuz schlagen zu lassen, damit sie fürderhin durch die Liebe Gottes erlöst werden. Aus der Demut Christi folgt die Demut ihrer Nachfolger. Sie erniedrigen sich, damit sie durch Gott erhöht werden.
Christliche Demut erweist sich nicht nur in der Nächsten-, sondern eigentlich erst in der Feindesliebe. Sie erschöpft sich keineswegs darin, sich in dessen Mentalität zu versetzen, seine berechtigten Positionen zu berücksichtigen, den eigenen Standpunkt in Auseinandersetzungen mit ihm zu relativieren. Der katholische Theologe Edward Schillebeeckx irrt sich, wenn er in seinem Buch „Jesus, die Geschichte von einem Lebenden“ die Feindesliebe als Selbstkritik gegenüber der eigenen Vorstellung, gerecht zu sein, interpretiert. Eindeutig geht es darum, für die zweite Ohrfeige die andere Backe hinzuhalten.
Eine extremistische Anforderung. Sie ist nur erklärbar aus der Gottesliebe, aber mit den Erfordernissen des Gemeinwesens so unvereinbar, dass zweitausend Jahre lang in der Kirchengeschichte an der Relativierung dieses Prinzips gearbeitet wurde – erfolgreich.
Mit der Demut hängt auch eine christliche Auffassung des Dienstes am Nächsten zusammen, vor der politisch engagierte Bürger mit Recht zurückschrecken. Denn auch dieser Dienst ist mit systematischer Selbsterniedrigung verbunden. Wir müssen nicht die Füße unserer Gäste waschen, um anschließend mit ihnen zu tafeln. Wir müssen nicht, wie der Apostel Paulus im zweiten Brief an die Korinther, die eigene Schwachheit in den Mittelpunkt rücken, um unsere Argumente ins Feld zu führen.
Das christliche Dienen hat etwas Masochistisches an sich. Es ist der Demut der Narodniki im letzten Jahrhundert verwandt, die aufs Land zogen, den Bauern Selbstbewusstsein zu lehren, von späteren Anwendungen des Prinzips „Dem Volke dienen“ seitens der maoistischen Studenten ganz zu schweigen. Mit dem Dienst für das Gemeinwohl der Polis hat der christliche Dienst wenig zu tun.
Schließlich Bekehrung und Umkehr, die Metanoia der christlichen Theologie. Im Bekehrungserlebnis zeigt sich, wie Edward Schillebeeckx schreibt, die kommende Gottesherrschaft „in präsentistischer Gegenwart“. Es geht also ums Hier und Jetzt. Wer bekehrt wurde, verlässt die eingespielten Sozialbeziehungen, verzichtet auf die Annehmlichkeiten des Besitzes, um Christus nachzufolgen. Und auf gesellschaftliche Anerkennung.
Aber gerade auf Anerkennung basiert das Gemeinwesen. Um sie wetteifern wir auch in der modernen Demokratie. Und wenn nicht um Anerkennung, dann wenigstens um Aufmerksamkeit.
War Jesus Christus ein Anhänger der „Kultur des Kompromisses“, an der wir alle zwangsläufig teilnehmen? Viele Erfordernisse für das Gelingen von Kompromissen, wie sie Martin Greiffenhagen jüngst herausgearbeitet hat, sind im Christentum vorgebildet: vor allem Vertrauen in die Veränderungsfähigkeit des Nächsten, gestützt auf Gottvertrauen.Weshalb „vertrauensbildende Maßnahmen“ für Christen auch kein Problem darstellen. Bestimmte Verfahrensregeln des Kompromisses, zum Beispiel „Ich teile den Kuchen, du wählst als Erster“, sind dann ganz unnötig. Gegenüber dem größeren Appetit seines Gegenübers hat ein wirklicher Christ stets Toleranz bewiesen.
Mit der Toleranz als Vorbedingung einer Kompromisskultur wird es erst schwierig, wenn es um die geoffenbarte Wahrheit geht. Stößt sich die heute allgemein gewordene Rede, die großen Religionen konvergierten im praktischen Humanismus, nicht an Christi eigener Rede? Hat er nicht von sich selbst gesagt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“? Gerade aus dieser Selbsteinschätzung gewinnen christliche Theologen zwar nicht die Toleranz des Polytheismus, aber eine Art pluralistischen Zugang.
Denn der Zugang zur göttlichen Wahrheit ist, wie der katholische Theologe Enrique Dussel schreibt, ein Prozess, ein Weg, niemals vollkommen oder vollendet. Wahrheit ist auf das Leben hin orientiert. Und das Leben „erweist sich als auf seinen Schöpfer hin demütig offene Realität“ (Dussel). Demütig und offen, damit kann man arbeiten.
Aber ist es überhaupt wünschenswert, das, was von Jesus Christus übrig geblieben ist, in eine demokratische Streitkultur, in den Rahmen kommunikativen Handelns einzupassen? Viele von uns hatten mal ihre Heilsgewissheiten, wenngleich ohne Transzendenz. Jetzt wachen wir argwöhnisch darüber, dass niemand die seinen behält.
Aus lauter Sorge um die Offenheit des Diskurses und die Zukunft der demokratischen Streitkultur vergessen wir manchmal die Frage, wodurch eigentlich der Streit angestoßen wird und aus welchen Quellen ursprünglich praktische Handlungsalternativen kommen. Oft kommen sie aus dem Bezirk der Unbedingtheit, wo nicht die besseren Argumente zählen, sondern die Erleuchtung.
Hören wir also dem seltsamen Herrn Jesus Christus zu, falls es ihm einfallen sollte, bei uns vorbeizuschauen. Ob bei einem Weihnachtsfest oder sonstwo. Und teilen wir nicht die Verachtung, die die „Römer“, also die Vertreter eines rationalen Republikanertums, von jeher gegenüber diesen Sektierern einnahmen. Wir streuen ein paar Getreidekörner vor den Altar unser entschwundenen Staatsgötter – sie nicht.
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