: Räucherstäbchen
Manchmal muss man seinen Gefühlen freien Lauf lassen. Aber ausgerechnet an Weihnachten? Und dann noch auf dem Hochbett? Eine Weihnachtsgeschichte inklusive Kettensägenmassaker ■ Von Alexa Hennig von Lange
Je schrottiger die Wohngegend ist, umso mehr geben sich die Leute mit ihren Gucklöchern Mühe!“, sagt Holger. Wir hocken im Dunkeln auf Dirks Hochbett, rauchen einen Joint und starren über das selbstgebaute Holzgeländer zum Fenster. „Scheiß-Wohngegend!“ In den gegenüberliegenden Fenstern, auf der anderen Straßenseite, blinken unendlich viele von diesen schrägen Weihnachtslämpchen. Absolutes Disko-Weihnachten ist angesagt. „Los, wir testen aus, wer am längsten hingucken kann!“ Holger hat immer die besten Ideen.
Gerade ist die Musik ausgegangen, und langsam fangen meine Augen an zu tränen. „Pack mal ’ne neue CD rein!“ Holger stößt Dirk mit der Faust gegen die Schulter. „Vergiss es! Auf den Trick falle ich nicht rein!“ Eben habe ich meine Augen schon heimlich ein paar Sekunden zugemacht, ohne dass Holger und Dirk etwas davon gemerkt haben. Zum Glück. Ich möchte auf keinen Fall als Verlierer dastehen. Auch wenn dieses Spiel ziemlich beknackt ist. Dirk tastet, ohne sich von dem Geblinke abzuwenden, nach den Zigaretten. Der ist heute nicht gut drauf. Ich hoffe, das wird sich gleich ändern, wenn Andi endlich da ist. Dann kann es nämlich losgehen. Eigentlich wollte er schon längst hier sein, aber es gab Probleme mit der Beschaffung unseres Arbeitsmaterials. Zuerst hat er behauptet, dass er die Kettensäge von seinem Mitbewohner mitbringen kann. Aber der hat es sich in letzter Sekunde noch mal anders überlegt. Darum rast Andi jetzt mit dem Taxi durch die Gegend und versucht, irgendwo anders eine aufzutreiben. Allerdings glaube ich nicht, dass ihm das an Heiligabend gelingen wird. „Dürfte ich mir mal kurz ihre Kettensäge ausleihen?“ Da wollen doch alle ihre Ruhe haben. „Wo bleibt ’n Andi?“ Dirk ist schon richtig nervös. Ich bin auch nervös, weil mir gerade wieder einfällt, dass er mir letztes Jahr meine Freundin ausgespannt hat. Das hat mich schwer getroffen. Besser, ich konzentriere mich auf die Aktion, die wir gleich bringen werden. Wir wollen Dirks Hochbett mit der Kettensäge zerlegen. „Hochbetten sind total albern!“, hat Dirk gestern gesagt. Da haben wir beschlossen, dass wir das Ding zur Feier des Tages niedermähen. Macht bestimmt Spaß. Danach wollen wir noch auf eine Party. Vorher duschen wir aber erst mal alle in Dirks Küche. Da hat er sich so eine provisorische Nasszelle reingebaut. „Aber bringt Handtücher mit. Ich habe keine Lust, eure Dreckwäsche zu waschen!“, hat Dirk gestern noch gesagt. Also sind Holger und ich mit Handtüchern und frischen Unterhosen angetrabt gekommen. Wie Grundschüler, die zu ihrer ersten Schwimmstunde gehen.
„Kann mir mal einer sagen, warum Andi zuerst erzählt, dass er ’ne Kettensäge besorgen kann, wenn er’s gar nicht kann?“ Jetzt hat Dirk aufgehört, sich die Blinkelämpchen reinzuziehen. „Verloren, verloren!“, kreischt Holger und wischt Dirk eins mit der flachen Hand über den Schädel. „Lass das, du Wichser!“ Das nenne ich Weihnachtsatmosphäre! „Lass mal ’n Räucherstäbchen anzünden!“ Holger wedelt mit einer angebrochenen Packung vor meiner Nase herum. Seit Dirk mit meiner Ex durchs Leben wandelt, liegen bei dem immer Räucherstäbchen rum. Meine Ex ist verrückt nach den Stäbchen. „Bitte nicht!“ Das erweckt nur unschöne Erinnerungen und das kann ich jetzt gar nicht gebrauchen.
Ich habe meine Ex richtig geliebt. Auch wenn sie diesen Räucherstäbchenfimmel hatte. Und ich dachte, sie liebt mich auch. Aber dann hing Dirk bei mir rum und hat beim Playstation-Gambeln gewonnen. Und ich habe meine Freundin verloren. Wirklich! Sie kam rein und hat gesagt: „Ich mach mal ’n Räucherstäbchen an!“ Ich habe gesagt: „Bitte nicht!“ Und Dirk hat gesagt: „Ja gerne!“ Und schon war alles klar. An dem Abend ist meine Ex gleich mit zu ihm abgewandert, und ich habe die Playstation aus dem Fenster geworfen. Wäre nett gewesen, wenn ich die beiden am Kopf getroffen hätte. Egal. Jedenfalls liegen seitdem Räucherstäbchen auf Dirks Hochbett.
Holger hat gleich zwei von den Teilen angezündet. Für jede Hand eine. Und damit hampelt er jetzt im Schneidersitz vor uns rum und macht: „Aaaahahaha!“ Hoffentlich kommt Andi bald und unterbricht diese unsägliche Weihnachtsfeier. Von diesem Räucherstäbchenduft kann einem unglaublich übel werden. „Was machen deine Eltern heute Abend?“ Dirk zieht am Joint und hält ihn mir hin. „Keine Ahnung. Weihnachten feiern, nehme ich an!“ Was soll die Frage? Will der, dass ich zu meinen Eltern abdampfe, oder was? Endlich klingelt es. Das müsste Andi sein. Wenn der keine Säge dabei hat, haue ich ab und leg mich ins Bett. Oder höre noch ein bisschen Musik. Außerdem wird mir gerade klar, dass ich auf der Matratze hocke, auf der es meine Ex mit Dirk treibt. Ich wette, die besorgt es ihm richtig. Meine Ex ist so eine. Die weiß, wie es geht. „Ich mach mal die Tür auf!“ Dieses Hochbett ist absolut unpraktisch. Jedesmal, wenn es an der Tür klingelt oder man aufs Klo will, muss man diese mickrige Leiter runterklettern. Das ist eigentlich nur was für Leute unter acht. Ganz anstrengend wird es, wenn man oben noch was geraucht hat. Da kann es gut passieren, dass man beim Runterklettern richtig Schiss kriegt. Darum springe ich besser gleich. „Aua!“ Jetzt bin ich total ungeschickt auf Dirks affigem K2-Roller gelandet.
Vor der Tür steht Andi. „Haste die Säge?“ „Klar!“ Zum Glück. Am besten, ich zersäge Dirks Matratze gleich mit. Sollen es die Verliebten doch auf dem Teppich treiben. Irgendwie bin ich immer noch nicht drüber weg. Ich möchte bloß mal wissen, ob die Angelegenheit an den Räucherstäbchen gescheitert ist. Wenn dem so ist, stellt Dirk die Sache ganz geschickt an. Der hat sich nicht mal bei mir dafür entschuldigt, dass er mir meine Freundin ausgespannt hat. Obwohl er gewusst hat, wie Klasse ich sie finde. Meine Ex ist die ultimative Schönheit. Da kann man nicht anders, als sie abgöttisch zu lieben. Ich weiß, ich hätte das mit den Räucherstäbchen dulden müssen. An dem Punkt habe ich leider versagt.
„Du hättest dich wenigstens mal bei mir dafür entschuldigen können, dass du mir meine Freundin ausgespannt hast!“ Ich steige vor Andi die klapprige Leiter zum Hochbett hoch. „Was erzählt ’n der für ’n Mist?“ Dirk knipst die kleine Lampe neben seinem Kopfkissen an und strahlt mir damit ins Gesicht. „Wenn du’s deiner Freundin nicht richtig besorgen kannst, muss ich mich dafür doch nicht entschuldigen!“ „Hört mal mit dem Thema auf!“ Holger ist gerade dabei, einen neuen Joint zu drehen. Die Räucherstäbchen sind verglüht, und Andi grabscht mir von hinten an den Arsch. „Sexy Popo, sexy Popo!“ Dirk beugt sich über das Geländer und leuchtet jetzt das Zimmer mit der Funzel ab. „Wo ist’n die Säge?“ „Liegt unten!“ Andi hievt sich neben mich aufs Bett. Besser, ich drücke mich am Fußende gegen die Wand. Hoffentlich finde ich nicht noch ein Schamhaar von meiner Ex zwischen den Kissen. Das sammel ich dann auf und klebe es zur Erinnerung in mein Poesiealbum. Bloß nicht! Hier muss schleunigst die Kettensäge angeschmissen werden. „Ich guck mir mal die Säge an!“
Wir stehen im Kreis unter Dirks dämlichem Hochbett. In unserer Mitte die Kettensäge. „Wo hast ’n das Teil aufgetrieben?“ Holger kniet sich neben die Säge und hebt sie hoch. „Ich bin zuerst dran!“ Dirk hängt sich an die Kettensäge. „Das ist mein Hochbett!“ „Vorsicht, Mann! Die ist nur geliehen!“ Andi scheint etwas mulmig zu werden. Am besten, ich regel die Angelegenheit. „Jungs, lasst mich mal. Ich kenne mich mit Kettensägen aus!“ „Echt?“ Da ist Andi aber erleichtert. „Na ja, ein bisschen!“ Außerdem ist es mein Job, die Liebesstätte meiner Verflossenen zu zerstören. Und alles andere auch gleich mit. „Los Dirk, leg dich hin! Ich säg dir deine Beine ab!“ Dazu hätte ich nicht übel Lust. Vielleicht sollte ich es einfach machen. Irgendwie muss ich mich ja rächen. „Spinnst du? Du hättest mir fast meinen Arm abgefräst!“ Lustig, Dirk steht richtig die Panik ins Gesicht geschrieben. „Pass bloß auf, dass ich dir nicht gleich noch deine Birne von den Schultern hole!“ Ich bin richtig wütend. „Du hast mir einfach meine Freundin ausgespannt!“ „Wenn du’s der nicht ordentlich besorgen kannst!“ Dirk geht eindeutig zu weit. Der kann was erleben! Und los! „Was machst ’n du da? Du kannst doch nicht einfach meinen Roller zerlegen!“ Klar kann ich das. Ich kann auch noch die Anlage zerlegen. Und den Schrank und das Regal. „Jungs, kann mal einer diesen Idioten stoppen!“ Nichts da! Aus dem Weg! Jetzt wird hier alles zu Kleinholz verarbeitet. Das bringt Spaß. „Hör auf, du Idiot!“ „Schnauze!“ Und jetzt das Fensterbrett. Super. Man sollte immer eine Kettensäge dabei haben. Da kommt einem keiner zu nahe. „Hör verdammt noch mal mit dem Scheiß auf!“ Das können die Idioten abhaken. Ich mache weiter, bis nichts mehr übrig ist. „Ich fasse es nicht, der zersägt meine Schuhe!“ Frohe Weihnachten, Kumpel. Ich wette, diesen Heiligen Abend wird Dirk nie vergessen.
Was ist denn jetzt los? Was will denn meine Ex hier? Wie kommt die denn rein? Hat die einen eigenen Schlüssel, oder was?
„Zieht ihm die Beine weg!“ So haben wir nicht gewettet. Die Jungs wickeln mich einfach in Dirks gammeligen Teppich ein. „Lasst mich los, ihr Schweine!“ Da sind überall pieksige Holzsplitter drin. Die bohren sich durch meine Klamotten in meine Haut. Jetzt beugen sich alle über mich und glotzen mich an. Meine Ex beugt sich besonders tief runter und starrt mir direkt in die Augen. „Du hast echt eine Vollmeise!“
Was soll man darauf antworten? Ich kann mir denken, dass ich gerade diesen Eindruck erweckt habe. Manchmal muss man seinen Gefühlen eben freien Lauf lassen. Das hat sie ja schließlich auch gemacht, als sie sich für Dirk entschieden hat. „Selber!“ Meine Ex-Freundin wird von Dirk zurückgezogen. „Kommt Leute, wir hauen ab!“ Da gehen sie, meine Freunde. Ziehen sich ihre Jacken an und verschwinden. Ich dachte, wir gehen alle zusammen auf die Weihnachtsparty!
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