Benebelt ins neue Jahrtausend

■ Der Jahreswechsel war auch nur eine Party – allerdings größer als die Love Parade. Der umstrittene „Lichtdom“ war im Nebel kaum zu sehen, viele Besucher blieben Zaungäste

Schon wieder ein Mythos weniger. Nur ein einziger Augenblick – und schon waren alle Erwartungen, Hoffnungen, Befürchtungen zerstoben, die sich an den Jahrtausendwechsel geknüpft hatten. Die Party der zwei Millionen zwischen Siegessäule und Brandenburger Tor: Für die meisten BesucherInnen war es, wie sie sagten, nur ein „ganz normales Volksfest“ zwischen „Schwenkbraterei“ und „Knödel-Stüberl“. Das Lichtspektakel, das wochenlang die Gemüter erhitzt hatte: im Nebel war es kaum auszumachen, statt bis nach Hamburg strahlte es gerade mal hundert Meter weit. Und schließlich die Computerpleite: Keinen einzigen Großrechner warf die Doppelnull ernsthaft aus der Bahn.

In ihrer Mehrzahl hatten sich die BerlinerInnen ohnehin auf eine höchst unkonventionelle Form der Silvestergestaltung verlegt: Sie feierten zu Hause, meist im kleinen Kreis. Schon lange nicht mehr hatten die Reisebüros so wenige Kurztrips über den Jahreswechsel verkauft. Und auf der großen Festmeile im Tiergarten tummelten sich vor allem TouristInnen.

Wer dort kurz entschlossen vorbeischauen wollte, hatte ohnehin Pech. „In diesem Jahr kommen Sie nicht mehr zum Brandenburger Tor“, schallte es schon am frühen Abend aus den Lautsprechern der Polizei. Bereits vier Stunden vor Mitternacht war der Pariser Platz wegen Überfüllung geschlossen worden. Für zehntausende blieb die Nacht der Nächte ein Abend am Absperrgitter.

Die Massen, die sich schließlich durch das kilometerlange Spalier aus Bühnen und Buden wälzen konnten, hatten den Böllerkrieg auf Berlins Straßen hinter sich gelassen. Alle Besucher mussten sich bei peniblen Kontrollen ihrer explosiven Fracht entledigen – nicht immer ohne Widerstand. „Reine Schikane hier“, riefen Jugendliche aus dem Wedding einem Ordner zu, „euch überrennen wir einfach!“ Es blieb indes bei starken Worten. Ungefähr doppelt so viele Verletzte, wie zu Silvester üblich – diese Zahl hielt sich, gemessen am Sekt- und Böllerumsatz, im erwarteten Rahmen.

Selbst ausgesprochene Silvestermuffel hatten in diesem Jahr zu Champagner gegriffen, bei Aldi waren die Vorräte zuletzt erschöpft. Doch als der Uhrzeiger endlich die zwölfte Stunde erreichte, schmeckte der noble Perlwein auf den meisten Zungen schal. „Auch nicht besser als Sekt“, ließ Volkes Stimme wissen.

Als die Lichter der Stadt im Nebel und dem Rauch der Feuerwerkskörper verschwanden, bot sich ein Anblick, als wäre der Strom soeben ausgefallen. Doch nichts geschah, auch Gas und Wasser wollten nicht versiegen. Selbst die Ängstlichsten konnten an ihrer Badewanne den Stöpsel ziehen. Kurz nach zwölf sprachen die Nachrichten wieder von zurückgetretenen Präsidenten, entführten Flugzeugen und schweigsamen Altkanzlern. Das Thema „Millennium“ war abgehakt.

Sind jetzt alle enttäuscht? Einer gewiss nicht: Der Regierende Bürgermeister hatte sich vom Jahrtausendpathos nie anstecken lassen. „Bei aller Ausgelassenheit“, hatte er die „lieben Berliner“ in seiner „traditionellen Ansprache zum bevorstehenden Jahreswechsel“ gemahnt, sollten sie „Vorsicht und Rücksicht walten lassen“.

Ralph Bollmann

Christoph Rasch

Siehe Seiten 6 und 20