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Einheitsgesichter in der Einheitsrepublik

Nachlese Stasi: Beim Versuch, vietnamesische Vertragsarbeiter systematisch zu observieren, scheiterte das MfS an einer Kleinigkeit. Sein Spitzelpersonal konnte Vietnamesen kaum voneinander unterscheiden ■ Von Marina Mai

Unter den 190.000 Ausländern, die 1989 in der DDR lebten, stellten die vietnamesischen Vertragsarbeiter und Studenten die größte Gruppe

Berlin (taz) – „Sendung verklebt“, lautet der banale Aktenvermerk der Hauptabteilung X der Stasi-Bezirksdirektion Erfurt. Die geheimen Genossen hatten einen Brief im Herbst 1989 nicht öffnen können und deshalb diese Notiz über eine Fotokopie des Briefumschlags in ihrer Akte geschrieben. Den Brief, den sie an den Adressaten, einen vietnamesischen Vertragsarbeiter im thüringischen Leinefelde, weiterleiteten, hatte dessen Vater aus Vietnam geschickt. Wie dort üblich, hatte er den Umschlag selbst gefertigt und ihn mit billigem flüssigen Klebstoff zugekleistert. Daran war die Stasi gescheitert.

Auch von den zwölf Leipziger Vietnamesen, die in den 70er-Jahren plötzlich verschwunden waren, hatte die Staatssicherheit keine Ahnung. Der vietnamesische Botschafter hatte sich an das MfS gewandt, weil er die zwölf noch in der DDR vermutete. Dem Diplomaten war unverständlich, „dass eine so große Zahl von Personen verschwinden könne, ohne dass von der Bevölkerung oder der Polizei Wahrnehmungen gemacht wurden“.

Peinlich für den sonst so allgegenwärtigen Sicherheitsdienst: Sein Spitzelpersonal in den Wohnheimen, in denen Vertragsarbeiter und Studenten wohnten, war schlichtweg damit überfordert, Vietnamesen voneinander zu unterscheiden. Jenen gelang es deshalb manchmal über Jahre, in der DDR in Wohnheimen unterzutauchen. Wenn von den Menschen die Rede ist, die in der DDR ins Visier der Stasi gerieten, dann denkt man zumeist an Bürgerrechtler wie Bärbel Bohley, Angelika Barbe und andere heutige „Helden“. Dass in der DDR lebende Ausländer observiert und schikaniert wurden oder DDR-Bürger, die mit ihnen allzu enge Kontakte hatten, ist bisher in der Öffentlichkeit kaum bekannt.

Eine druckfrische Dokumentation der Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen Sachsen-Anhalt, angefertigt von Michael Feige, bringt dies jetzt zumindest für die größte Ausländergruppe in der DDR – vietnamesische Vertragsarbeiter und Studenten – aus den Archiven ans Licht. Unter den 190.000 Ausländern, die 1989 in der DDR lebten, waren 60.000 vietnamesische Vertragsarbeiter und mindestens 15.000 weitere Vietnamesen.

Einige Begebenheiten würden durchaus den Stoff für „Heldenbiografien“ abgeben. So etwa die Geschichte jener jungen DDR-Bürgerin, die 1985 den vietnamesischen Vater ihres kleinen Sohnes, der nach Studienende die DDR hatte verlassen müssen, zurückholen und heiraten wollte. Nach jahrelangen Auseinandersetzungen mit Behörden der DDR und Vietnams, nach Bittbriefen an die „Genossen Erich Honecker, Genossen Oskar Fischer, Genossen Pham Van Dong und Genossen Nguyen Co Thach“, protestierte sie gemeinsam mit dem Kind vor dem Botschaftsgebäude – mit geschorenen Köpfen. Immerhin: Der Vietnamese durfte zurückkehren.

Die Observation von Vietnamesen durch die Stasi änderte sich im Laufe der Jahre. In den 60er- und 70er-Jahren gerieten lediglich Einzelfälle mehr oder wenig zufällig ins Visier. In den 80ern wollte das MfS in vertraglich besiegelter Kooperation mit der vietnamesischen Seite systematisch spitzeln. Vietnams Sicherheitsdienst durfte nicht nur in der Botschaft in Berlin einen seiner Mannen mit Diplomatenpass stationieren, er unterhielt in sieben weiteren Städten „Außenposten“. Dazu hatte die Stasi ihre vietnamesischen Partner geradezu gedrängt, die dieser Bitte nur zögerlich nachkamen, weil sie nicht über genügend „Tschekisten“ mit deutschen Sprachkenntnissen verfügten.

Je mehr Vietnamesen in die DDR kamen, umso mehr machten sie den DDR-Offiziellen Schwierigkeiten: Sie fielen durch Hamsterkäufe von Fahrrädern, Motorrädern, Nähmaschinen und Fotozubehör unangenehm auf, die in der DDR damit zu Mangelwaren wurden. Auf der anderen Seite erwarben einige bei ihren Verwandten in der Bundesrepublik und in Frankreich Gold, Computer und andere hochwertige Elektronik, die sie „unter Umgehung der Zollbestimmungen“, wie es hieß, in An- und Verkaufsgeschäften „spekulativ veräußerten“. Dollar und D-Mark haben sich Vietnamesen entweder von ihren Verwandten oder von afrikanischen Studenten in der DDR „rechtswidrig“ besorgt, um sie nach Vietnam auszuführen.

Das passte nicht in das Bild der fleißigen Vietnamesen, die offiziell zur Arbeit und beruflichen Ausbildung in der DDR waren, ihren Aufenthalt in den Augen der Stasi aber nunmehr zu „Spekulationsgeschäften“ nutzten. Anders als die Studenten hatten die vietnamesischen Vertragsarbeiter nach ihrer Rückkehr keinen lukrativen Job zu erwarten. Das wussten sie. Um in Vietnam eine Chance zu haben, machte es keinen Sinn, die Anlerntätigkeiten perfekt zu beherrschen. Es kam darauf an, viel Geld zu verdienen. Weil sie DDR-Mark verdienten, mit der sie in Vietnam nichts kaufen konnten, mussten Waren nach Vietnam verschifft werden, die sich dort gut verkaufen ließen.

Die DDR hatte die Vertragsarbeiter jedoch nur als Arbeitskräfte eingeplant, nicht als Konsumenten. Dass 60.000 Menschen nunmehr ungeplant ihre Kaufkraft auf wenige Produkte konzentrierten, was wegen der neuen Engpässe viele DDR-Bürger ärgerte, galt der Stasi als Sicherheitsproblem.

Aus der Kooperation mit dem vietnamesischen Sicherheitsdienst bei der Bespitzelung der Vertragsarbeiter ergaben sich andere Serviceleistungen: Auf Bitte der Vietnamesen übernahm die Stasi die Bespitzelung des Ostasiatischen Vereins in Hamburg, eines Spiegel-Reporters und von DDR-Bürgern, die Vietnamesen heiraten wollten.

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