: Fahrerdienst und Bagel-Frühstück
Am Sonntag wird der neue Präsident des Zentralrats der Juden gewählt. Doch abseits der offiziellen Ebene zeugt ein wachsendes Interesse an der Religion von einer tief greifenden Veränderung im Selbstverständnis der hiesigen jüdischen Gemeinschaft ■ Von Tsafrir Cohen
Es ist ein grauer Nachmittag zwischen Weihnachten und Neujahr. Die ganze Republik scheint gemeinsam Urlaub genommen zu haben, und die Jüdische Gemeinde in Berlin macht hier keine Ausnahme. Doch im Charlottenburger Hinterhof herrscht trotzdem Hochbetrieb: Eltern holen ihre Kinder vom „Gan Israel Camp“ ab. Die Kinder wiederholen beim Hinausgehen „Meschiach, Meschiach“, ein Lied über die Ankunft des Messias, das sie eben gelernt haben.
Wer schön gesungen hat, bekommt von der jugendlichen Betreuerin einen Papier-Dollar, mit dem sich koschere Süßigkeiten erwerben lassen. Die junge Betreuerin – mit dunklem Pulli, langem Rock aus Jeansstoff, langen, nach hinten gebundenen Haaren eine fromme und gleichzeitig moderne Erscheinung amerikanischer Provenienz – ist eine von mehreren jungen Chabad-Anhängern, die neuerdings in Berlin, nach einem Crashkurs in Deutsch, jüdische Kinder nach Chabad-Art während der Ferien betreuen.
Chabad ist der erfolgreichste chassidische „Orden“ der letzten Jahrzehnte. Wie andere chassidische Bewegungen wurde Chabad/Lubawitsch im 18. Jahrhundert in Osteuropa gegründet. In seinem Mittelpunkt steht ein charismatischer Zaddik (wörtlich: Gerechter), dem göttliche Kräfte zugesprochen werden, gleichwohl ist sein Stuhl erblich. Da chassidische Bewegungen davon ausgehen, dass das Göttliche die Materie durchdringt, ist auch das Böse nur eine Vorstufe des Guten/Göttlichen. Chabad hat also keine Berührungsängste mit der modernen Welt und geht jeden erdenklichen Weg, um die Welt besser, sprich: gläubiger zu machen. In den letzten zwei Jahren ist Mitteleuropa verstärkt Ziel von Chabad; vor allem Deutschland, das einzige europäische Land mit einer stark wachsenden jüdischen Gemeinde.
Zum Berliner Chabad-Programm gehören immer mehr speziell auf verschiedene Gruppen zugeschnittene Programme: Sie benutzen E-Mail (Bchabad @aol.com), organisieren prayers for professionals für werktätige Juden oder energising classes und Vorträge über ostasiatische Philosophie (die ja erst durch das Judentum entscheidend geprägt wurde, behauptete jüngst Rabbi Laibl Wolf im angesehenen Berliner Centrum Judaicum) samt Meditation für esoterisch angehauchte Mitglieder, die der Seele helfen sollen, „ihren jüdischen Weg zu finden“. Für junge Menschen und „Anfänger“ gibt es Gottesdienste jenseits der etablierten Synagogen, inklusive Fahrerdienst und Bagel-Frühstück.
Der religiöse Anschluss an die moderne (modische) Welt ist immer um die Ecke. „Sie tun die Sachen, die andere ungern tun: Sie gehen in die Gefängnisse, in die geriatrischen Abteilungen der Krankenhäuser. Sie sind immer abrufbereit, man muss sie nur anrufen“, sagt Anat Bleiberg, Leiterin der Sozialabteilung der Jüdischen Gemeinde. Prof. David Assaf von der Tel-Aviv-Universität bestätigt dies: „Sie haben ein unerschöpfliches Reservoir an Manpower. Jeder Jünger muss nach der Hochzeit als Teil eines Initiierungsritual im Dienst des Rabbi stehen und seine Lehre verbreiten helfen. Während der Wahlen nach der Ermordung Rabins hat Chabad seine wahre Stärke gezeigt: Zu tausenden haben sie Netanjahus Wahlkampf unterstützt – mit den bekannten Ergebnissen.“
„Es besteht ein starker Trend zur Orthodoxie; man holt sich die Frommen, die stellvertretend für Frömmigkeit stehen. Es besteht ein rudimentärer Glaube an Erlösung“, sagt Prof. Julius H. Schoeps vom Potsdamer Moses Mendelssohn Zentrum für Jüdische und europäische Studien. Er kann es kaum fassen, dass in Berlin, der Wiege der jüdischen Aufklärung, solche Tendenzen nicht nur gedeihen, sondern auch gefördert werden. Eltern, die ihren Kindern kaum die einfachsten jüdischen Gesetze beibringen können, finden, „ein bisschen Jüdischkeit“ schade nicht. Doch, so Albert Meyer, Repräsentant der Jüdischen Gemeinde: „Das ist gefährlich. Chabad ist eine Sekte, die uns unterwandern will. Vor allem die Tatsache, dass die Jüdische Gemeinde Chabad nach Berlin eingeladen hat, regt mich auf. Wäre die Gemeinde intakt, hätten wir keine solchen Probleme. Es besteht aber ein geistiges Vakuum, das diese Menschen ausfüllen – mit unvorhersehbaren Folgen.“ In Berlin entlohnt die Gemeinde den – freilich jovialen – Rabbi Teichtal als Jugend-Rabbiner.
Ein paar Tage später, beim egalitären Gottesdienst in der Oranienburger Straße: Selbst am Silvester-Abend treffen sich hier einige Dutzend Juden, Männer und Frauen sitzen zusammen, Frauen können zur Thora aufgerufen werden und sie tragen. Erklärungen auf Deutsch (!) erleichtern dem Ungeübten die Orientierung. Eine junge Frau mit rotblondem Haar betet vor, ihre Stimme ist die opernhafte Entgegnung zum sonst in Berlin üblichen männlichen Kantor.
Die Vorbeterin Avital Gerstetter ist seit knapp einem Jahr dabei, eine nach reformiertem amerikanischem Muster konzipierte Synagoge aufzubauen. „Hier kann die junge Generation die Religion praktizieren und sich wohlfühlen in der eigenen Tradition – in Deutschland. Dazu zählt der späte Anschluss an die heutige Zeit, in der Frauen gleichberechtigt am Gottesdienst teilnehmen können.“
Die junge Generation – das gilt vor allem für die Neuzuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion – wisse, bedingt durch den Besuch der jüdischen Schule, viel mehr über die Religion als ihre Eltern. Sie möchte am Gottesdienst partizipieren und ihn in ihr Leben integrieren. Sie akzeptiert die elterliche Mischung nicht mehr, zwischen strengem, aber wenig verstandenem Ritus in der Synagoge, der Identität sinnfällig symbolisiert, gepaart mit einer irreligiösen Lebensweise. Von Chabad über verschiedene private Initiativen bis hin zum egalitären Gottesdienst: Das wachsende Interesse an Religion ist Zeichen einer tief greifenden Veränderungen, auch im gesellschaftlichen und politischen Selbstverständnis der jüdischen Gemeinschaft.
Die junge Generation hat sich von der Vorstellung verabschiedet, sich hier nur abwickeln lassen zu wollen. Die Gemeinschaft wächst nicht mehr zufällig: Die Einwanderer kommen bewusst hierher ans Ziel ihrer Träume, nicht zu einer Zwischenstation.
Nachdem der israelische Präsident Eser Weizman bei seinem Berlin-Besuch die jüdische Gemeinde in Deutschland in Frage gestellt hatte, begann eine mit starkem Engagement geführte Diskussion über die Verbundenheit der deutschen Juden zu Israel. Nicht zuletzt dadurch hat sich eine selbstbewusstere Position entwickelt, die auch mit einer Portion Distanz zu Israel gepaart ist.
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